28.06.2020 | 7:30 Uhr | 168,0 km | 2.263 Hm+ | 2.263 Hm- | (Trainingsfahrt) |
Dieses Frühjahr war ja nun mal rezessionsbedingt nicht viel los - ausgenommen natürlich die Vielzahl an Einschränkungen des täglichen Lebens. Was haben wir deshalb nicht alles hintenan gestellt? Die liebgewordenen Spontanbesuche in der Mailänder Scala fielen genauso weg, wie die Wochenendausflüge an die Côte d'Azur oder nach New York. Der Lieblingsfigaro aus London konnte letztmalig Anfang März für seine Tätigkeit eingeflogen werden und für die verpflichtenden VIP-Logen-Besuche beim Bundesligafußball mußte das altehrwürdige Transistorradio am Stehimbiß herhalten. Es sind tiefe Einschnitte in den Alltag und der Cosmopolit lechzt logischerweise nach Lockerungen dieser Stallpflicht. Da kommt die Grenzöffnung zur Tschechei als erster kleiner Lichtblick gerade recht, denn so kann man wenigstens mal die coronabedingte Entwicklung des Biergeschmacks hinter dem Erzgebirgskamm auf böhmischer Seite testen.
Mit diesem kulinarischen Vorwand bringt Tilo natürlich schnell seine dafür beantragten Passierscheine an den Mann. Nach einer kurzfristigen Absage (weil sonst der Frühschoppen weggefallen wäre) und einem eher etwas fragwürdigen "Korb" (weil die Familienfeier am Vorabend zu intensiv begangen wurde) begeben wir uns am frühen Morgen nur zu viert in die Spur. Wegweisend nehmen dabei die Mamils Tilo und Siggi das Heft in die Hand, während das Krachwitz-Duo versucht kräfteschonend in deren Windschatten zu lutschen. Der Anfang durch das Zwönitztal ist recht moderat, wenn man bedenkt, daß sich am Ende der Tour rund 2.000 positive Höhenmeter in den Aufzeichnungen wiederfinden sollen - hohe Gänge werden gefahren und so manches erzgebirgisches Lied angestimmt. Das langgezogene Intro plätschert Kilometer für Kilometer so vor sich hin, wie entgegengesetzt das Wasser der Zwönitz gen Chemnitz plätschert. An der Türkenheide zwischen Kühnhaide und Grünhain wird die erste Hucke registriert und in einem längeren Bergab bis Waschleithe wieder neutralisiert.
Am dortigen Heimateck ist die erste Bierpause anberaumt. Vis a vis zum erzgebirgischen Miniaturenpark nehmen wir unter einem Sonnen- oder besser gesagt Regenschirm platz. Siggi schwärmt von irgendeiner Bierbrause, welche seinem Geschmacksnerv besonders gut bekäme und natürlich nur hier erhältlich wäre. Doch das war sicherlich vor der Covid-19-Ära und somit nicht mehr gültig, da "nach" Corona ein generelles Umdenken in unseren bisherigen (dekadent geführten) Lebensweisen stattfinden muß (wie man landein/landaus zu hören bekommt). Daher gibt es eine Runde "richtiges" Bier, um schon mal einen geschmacklichen Wegweiser für den Rest des Tages zu setzen - Biermischgetränke aus böhmischer Produktion sind mir auch gar nicht so geläufig! Da man jedoch ein "Freiberger" auch jederzeit daheim einnehmen kann (wenn man das unbedingt will) und wir ja hauptsächlich in Sachen "Böhmisches Bier" unterwegs sind, entfällt logischerweise eine Bewertung.
Ein paar Kilometer sind es noch bis zur tschechischen Grenze. Über Schwarzenberg biegen wir ins Tal des Schwarzwassers ein und gelangen so nach Johanngeorgenstadt. Dort erinnert rein gar nichts mehr an eine mehrwöchige Grenzschließung und im böhmischen Breitenbach (Potučky) vermutet man aufgrund der Menschenmassen sogar ein riesiges Volksfest. Doch die vielen bunten Kirmesbuden entpuppen sich als alteingesessene Verkaufsstände für allerlei Krimskrams und die meisten Plätze in den Straßen"cafes" sind sicherlich mit einer personifizierten Reservierung auf Monate hinaus ausgebucht - Konsumterrorismus vom feinsten und alles stinknormaler Alltag! Wir entfliehen diesem Tohuwabohu Richtung Ziegenschacht (Strán), denn dort steht ein Gebäude, welches "weit on braat bekannt, weit rüm in Sachsen wie in Böhmerland" ist - die durch Anton Günther bekanntgewordene Draakschenk.
Da Draakschenk in Breitenbach
"Onn gieht mer dort vorbei, da reßts enn jed'n nei", heißt es im Refrain des 1904 entstandenen Liedes des erzgebirgischen Heimatdichters zur Anziehungskraft des Schankhauses. Doch beim Einkehren kann man sich derzeit nur ein Bild vom Stand der Umbaumaßnahmen machen und das Ergebnis einer Bierverkostung mit "Bier onn Wei in Hüll un Füll, alles gut on kost net viel" vorerst als gegeben hinnehmen. Hoffen wir, daß recht bald die Textstelle zu diesem Thema wieder eins zu eins zitierbar ist. Nach diesem historischen Abstecher müssen wir wieder zurück - "a de Grenz vo Sachsen, wu de Schwarzbeer wachsen, wu sich Braatenbach hizieht, wus nümm nach Hannsgörngstadt gieht". Genau, es geht wieder zurück zum großen Trubel, zur allgemeinen Glückseligkeit ob niedriger Preise! Wir erliegen diesem Firlefanz jedoch nicht und biegen schnellstmöglich ins Tal des Schwarzwassers (Černá voda) ein und genießen dort (auf zwar etwas schlechterer Straße) die Einsamkeit.
Abertham / Pleßberg
Früher säumten hier diverse Kleinstsiedlungen den Weges- bzw. Bachrand, welche jedoch mit der Vertreibung der Sudetendeutschen ihr Ende fanden: Brettmühl (Pila), Jungenhengst (Luby), Zwittermühl (Háje) und Gottessegen (Bozí Pozehnání). Auch Seifen (Ryzovna) an der Kreuzung der Straßen Gottesgab-Bergstadt Platten und Breitenbach-Abertham (mit einer von Radfahrern "belagerten" Kneipe) gelegen, existiert heute nicht mehr in seiner ursprünglichen Form. Im Zuge des Zinnabbaus als Bergbausiedlung im 16. Jahrhundert entstanden und später nur noch mit Viehzucht (trotz unfruchtbaren Bodens und rauen Klimas) und Heimarbeit (1869 Errichtung der Staatlichen Klöppelschule) am Leben erhalten, verfiel der Ort nach Kriegsende und Vertreibung aufgrund mangelnder Infrastruktur immer mehr. Die Mauerreste der 1968 abgetragenen Wenzelskirche (Kostel sv. Václava) sowie ein Denkmal für die im Ersten Weltkrieg Gefallenen Seifens und seiner Ortsteile Goldehöhe (Zlaty Kopec) und Halbmeil (Milov) erinnern am Fuße des Wagnerberges (Nad Ryzovnou) an diese Ortschaft.
Pleßberg - 1.028 m üNN
Am knapp 1.000 Meter hohen Kamm hinab nach Hengstererben (Hrebečná) und Abertham (Abertamy) ist zum ersten Mal der Pleßberg (Plešivec) am Horizont auszumachen. Wir müssen aber nochmal rund 150 Höhenmeter durch besagte Ortschaften nach unten, um den Gipfel zu erreichen. Dieser ist recht gut besucht und ein "aus dem Sattel gehen" für die Bergwertung gibt es daher nicht, denn möglichst unangestrengt sollen die letzten Meter zum Plateau 'rüberkommen. Und doch sind wir viel zu schnell oben, denn die Bergwarte hat zu ... und das bis zum 1. Juli! Wir haben daher nicht die Möglichkeit eines Turmbesuches und auch die Verkostung des dort angebotenen Krusnohor-Bieres aus Graslitz (Kraslice) entfällt zwangsläufig. Doch ein paar Schritte entfernt werden wir in der Außenanlage des Hotels Orion fündig: die gediegene Sitzgarnitur aus Holz und das vom großen Rummel etwas abgelegene Ambiente bieten einen würdigen Rahmen für den Genuß unserer ersten böhmischen Biere n.C. (nach Corona).
Gottesgab
"Pilsner Urquell", so der Name des Getränks, steht nun in dreifacher 0,5-Liter-Ausführung vor uns. Dazu gesellt sich ein dunkles "Karel IV." aus der gleichnamigen Karlsbader Brauerei. Letztgenanntes Bier ist natürlich ein Novum im Orbit unserer vierköpfigen Hopfensaft-Historie und kann daher nicht einem Vorher-Nachher-Vergleich unterzogen werden. Geschmeckt hat es trotzdem! Beim Pilsner sind wir uns des "ersten Gefühls" nicht ganz sicher und bestellen lieber mal noch ein zweites Testobjekt. Gewohnt süffig, vollmundig und natürlich zur rechten Zeit am rechten Ort. Testurteil: wir würden es bei sich bietender Gelegenheit sofort wieder trinken! Mit einem ausgedehntem "Gulasch und Knödel"-Mahl geben wir dem Körper danach genügend Zeit, die vorgeschriebene Fahrtüchtigkeit wieder herzustellen.
Gottesgab - Vaterhaus und Grabstätte Anton Günters
Über Werlsberg (Vrsek) radeln wir weiter zur höchstgelegenen Stadt der Tschechischen Republik - ins 1.028 Meter über Seehöhe gelegene Gottesgab (Bozí Dar). Wir befinden uns also wieder auf Pleßberg-Höhe und nehmen im Ortskern eine kräftige Husche (Regen) mit. Unter einem Vordach läßt sich diese jedoch ganz gut verkraften, ehe wir weiter Richtung Ortsausgang, zum Friedhof fahren. Dort befindet sich die letzte Ruhestätte Anton Günthers, zu dessen Beisetzung 1937 über 7.000 Leute aus dem sächsischen und böhmischen Erzgebirge gekommen waren. Zu den Klängen seines bekannten "Feierobnd"-Liedes ("Gar manich Herz hot ausgeschlongn, vorbei is Sorg un Müh, un übern Grob ganz sachte zieht, a Rauschn drüber hi.") fand er seinen Frieden in heimatlicher Erde. "Wos e Mol war, kömmt nimmer wieder, es is vorbei, öb schlecht, öb gut, ons bleibn när noch de alten Lieder on wos ons tief in Herzen ruht." lautet eine Inschrift an seinem Grab. Mein Großvater hat, als er in der Weltwirtschaftskrise auf Tippelei (auf Arbeitssuche) war, oft den musikalischen Auftritten Günthers in den Wirtshäusern des Erzgebirges gelauscht und war begeistert von der Ausstrahlung, die vom "Toler-Hans-Ton'l" ausging. Diesen Beinamen bekam er zur besseren Unterscheidung, weil der Name Günther zu Hauf in Gottesgab vergeben war. Er bezog sich auf die Herkunft des Vaters ("Toler-Hans"), der aus Sankt Joachimsthal (Jáchymov), also aus dem Tal stammte und in sein Vaterhaus in Gottesgab zurückgekehrt war. Dieses Haus ist noch immer erhalten und erfährt logischerweise einen Kurzbesuch durch unsere Radtruppe.
Keilberg - 1.244 m üNN
Auf unserem weiteren Weg zum höchsten Punkt der Runde, dem 1.244 Meter hohen Keilberg (Klínovec), lassen wir Gottesgab und damit die letzte Gelegenheit, günstig (?) zu tanken hinter uns. Und das aus gutem Grund, denn hier muß man für den Liter Diesel 1,079 Euro berappen, während es in Chemnitz knapp zwei Cent weniger sind. Die Trinkflaschen wären für ein richtiges Schnäppchen leer gewesen - etwas über zwei Liter Kraftstoff hätte man daher pro Person mitnehmen können ... aber doch nicht bei solch' einem Preis!
Der Zustand der Bebauung auf dem Keilberg hat sich seit unserem letzten Besuch nicht grundlegend verändert. Eine Baustelle, oder zumindest deren Absperrung, ist neu dazugekommen. Sonst ist alles beim alten. Den Turmbesuch können wir uns aufgrund des Waschküchenflairs schenken und so steht nur noch die Verkostung des einheimischen Biers auf der Gipfel-Agenda. Wir wählen dieses Mal nicht das Sporthotel Rudolf zur Einkehr, sondern das Restaurant an der alten Seilbahn (Restaurace U Staré Lanovky), welches sich südlich des Gipfels an der Zufahrtsstraße befindet.
Obwohl sich mittlerweile die Sonne durch die dicke Wolkendecke zu drängen versucht ("Of de Barg, da is halt lustich, of de Barg da is halt schie, da scheint de Sonn an allererschtn, scheint se ah an längstn hie.") und ein Plätzchen im Freien sicherlich gut getan hätte, entscheidet sich die Rennleitung für einen Gaststättenbesuch ("Komm ich emol in Wirtshaus nei on trink mei halwe Bier, do bi ich lustich un wuhlauf, mer ka halt nischt derfier."). Drinnen sitzen vier oder gar fünf Chemnitzer Radsportfreunde, welche mit dem MTB über den Fichtelberg angereist sind und sich hier voll und ganz dem obligatorischen Biertest widmen. Einer von ihnen ist Postsportler Friedmar und wird später gemeinsam mit uns die Heimreise (zumindest bis Thermalbad Wiesenbad) antreten.
Doch bevor es soweit ist, wird der zweite Gaumentest durchgeführt. Es gibt wiederum "Urquell" aus Pilsen und ein Geschmacksunterschied zum vorherigen Pils vom Pleßberg dürfte (rein oberflächlich betrachtet) nicht zu registrieren sein. Doch nun befinden wir uns knapp 200 Meter "höher" und das kann dann auch fatale Folgen im Bezug auf den Biergenuß haben. Die Viskosität des verwendeten Brauwassers verändert sich mit der niedrigeren Temperatur in der höheren Lage und zudem soll ja der stark veränderte Luftdruck Einfluß auf die sogenannte Geruchs- und Geschmacksschwelle haben. Mit zunehmender Höhe arbeitet allerdings auch das Gehirn langsamer und somit belassen wir es bei einer oberflächlichen Analyse und sind einhellig der Meinung: sieht gut aus, schmeckt gut und bekämpft im zweiten Anlauf sogar etwas den Durst!
Die langgezogene Abfahrt vom Keilberg nach Weipert (Vejprty) über Böhmisch-Hammer (Česke Hamry) und Neugeschrei (Nové Zvolaní) ist Genuß pur - fast ohne Treten kommen wir so an die deutsch-tschechische Grenze nach Bärenstein. Nun folgen wir dem Pöhlbach bis Wiesenbad, wo dieser in die Zschopau mündet. Auf der B101 erreichen wir Wolkenstein und biegen für ein paar weitere Hügelquerungen nach Drebach und weiter Gelenau und Weißbach ab. Von da geht es nur noch bergab: anfangs mit Schußfahrt durch Dittersdorf, danach gemächlich im Zwönitztal nach hause.
Für Ute und mich ist nach 168 Kilometern "Feierobnd", "es Togwark is vollbracht, s gieht alles seiner Haamit zu, ganz sachte schleicht de Nacht". Während Siggi und Tilo also noch Richtung Heimat unterwegs sind, steht ein gekühltes "Echt Einsiedler Böhmisch" parat, um die von der heutigen Hochleistungsschicht reichlich aufgewühlten Geschmacksnerven nicht abrupt zur Ruhe kommen zu lassen.
Bilder: Tilo Kozlik (6), Siegfried Beyer (1), Thomas Delling (17), Ute Herfurt (2)
Zitate in dor Muttersproch: aus dem rund 200 Gedichte und Lieder umfassenden Lebenswerk Anton Günthers (1876 - 1937)