14.08.2022 | 4:00 Uhr | 25,3 km | 3.065 Hm+ | 84 Hm- |
Ein Wettkampf mit dreitausend Höhenmetern im Anstieg und dem Zieleinlauf auf 3.610 Metern über Null - von der südlichen Rhonetalseite auf das Üssers Barrhorn, dem höchsten per "Wanderweg" erreichbaren Alpengipfel: das klingt auf den ersten Blick ganz schön bekloppt, doch die geographischen Bedingungen für diese Unternehmung geben dem daran Interessierten immerhin 25,3 Kilometer "Zeit", diesen Höhenunterschied zu überwinden.
Bei der Vielzahl von traditionsreichen Bergläufen in den Schweizer Kantonen Waadt (Vaud) und Wallis (Valais) hat es so ein Neuling, wie der Barrhornlauf (3K Vertikal Turtmanntal Trail) natürlich schwer, sich trotz seines beachtlichen Zahlenwerks in den Vordergrund zu schieben. So wird man auch im Internet nicht gleich mit dieser Veranstaltung konfrontiert und muß daher etwas weiter in die Materie vordringen. Unter lev3ls.ch, einem Ableger von SwissPeaks (u.a. Veranstalter des 360er von Oberwald nach Bouveret) wird man fündig.
Bisher kannte man als Dreitausend-Höhenmeter-Berglauf nur den 2014 erstmalig ausgetragenen Vertikal 3K vom Piazza Savoia in Susa (503 m) hinauf zum Gipfel des Rocciamelone (3.538 m). Da dieser für die zu bezwingenden 3.035 Höhenmeter auch nur eine Distanz von 9,7 Kilometern bereit hält, ist er auch weltweit als einziger Triple Kilometer Vertical gelistet. Im Turtmanntal (Vallée de Tourtemagne) ist dafür jedoch alles etwas zu weitläufig, obwohl es eines der kürzesten/steilsten südlichen Seitentäler des Rhonetals ist. Daher ist der Lauf auf das Barrhorn auch als 3K Vertikal Trail "herabgestuft". Leicht wird es deshalb trotzdem nicht! Vor vier Tagen habe ich Ute und mich in die Teilnehmerliste eingetragen - Ute in der Kategorie "Wanderer" (Zeitlimit 12 Stunden, Start 4 Uhr) und mich als "Läufer" (Zeitlimit 10 Stunden, Start 6 Uhr). Als Nachmelder werden dafür je 70 Franken veranschlagt, abgezogen werden allerdings nur 65. Dieses Startgeld beinhaltet auch zwei Übernachtungen (Camping/Duschen), Bus- und Seilbahnrückfahrt sowie eine Abschlußfeier mit Raclettes und anderen Köstlichkeiten.
Am Vorabend gibt es in der Touristeninformation von Turtmann die Startunterlagen, dazu den Hinweis auf das einzige Zeitlimit auf der Strecke: das Verlassen des VP Turtmannhütte muß für Läufer bis 10 Uhr und für Wanderer 9:30 Uhr geschehen. Man hat aus den Fehlern des Vorjahres gelernt und diese Schranke eingebaut, da zu viele Teilnehmer zu lange auf der Hütte (bei Kost und Logie) verweilten. Auch die Einteilung in "Läufer/Coureurs" und "Wanderer/Marcheurs" ist eher eine Unterscheidung in "schnellere Teilnehmer" und "langsamere Teilnehmer". Deshalb darf auch ich unkompliziert von der 6-Uhr-Startgruppe zu den 4-Uhr-Startern wechseln - muß jedoch an Eides Statt versichern, nicht "zu schnell" zu sein. Das wäre bei der Premiere eben auch der Fall gewesen, daß schnellere Läufer sich beim früheren, sprich kühleren Start angemeldet haben und dann so flott unterwegs waren, daß die Verpflegungsstellen noch nicht aufgebaut waren. Das wird mit mir sicherlich nicht passieren!
Ab halb vier versammeln sich die sogenannten Wanderer vor der Kirche von Turtmann. Insgesamt betrachtet, zeichnet sich selbst im Dunkel ein recht sportliches Starterfeld ab, welches nicht auf einen gemütlichen Wanderausflug aus ist. Kurz darauf bestätigt sich diese Annahme und nach dem Herunterzählen geht es auch gleich scharf los. Der Mercedesfahrer, der das Führungsfahrzeug durch den Ort manövriert, mußte sicherlich auch hochschalten, so wie da vorn die Post abging. Der erste Anstieg bremst jedoch den Großteil des Feldes schon wieder aus und es geht im schnelleren Kampfwanderschritt in die Dunkelheit des Waldes.
Der Pulsschlag ist für eine Wanderung definitiv zu hoch, doch wir dürfen den Anschluß nicht verlieren und bleiben mal trabend, laufend oder eben zügig wandernd an den Stirnlampenkegeln, die vor uns den Wald erhellen. Nach (offiziell) 5,6 Kilometern gibt es die erste Verpflegungsstelle - Hübschweidi (1.447 m) nennt sich dieser Fleck mitten im Gebüsch. Es gibt warme und kalte Getränke, Kekse, Schokolade, Käse, Obst und Walliser Trockenfleisch. Nach rund acht Kilometern sind dann auch die ersten tausend Höhenmeter geschafft. Unsere Zwischenzeiten für die jeweiligen Abschnitte sind natürlich fürs Bergwandern viel zu schnell und für einen Berglauf hinken sie gehörig hinterher. Zum Vergleich: die für den Normalsterblichen gedachte Wanderung aufs Barrhorn wird von Turtmann via Seilbahn- und Bustransfer bis Gruben (1.820 m) oder sogar bis Vorder Sänntum (1.901 m) eingeleitet und von dort beginnend, mit zwei Tagen veranschlagt (mit Übernachtung auf der Turtmannhütte). Demgegenüber stehen die 3:07:33 Stunden, die der Schweizer Cédric Mariéthoz beim vorjährigen Barrhornlauf-Sieg benötigte.
Recht sachte und stellenweise sogar bergab führt uns der Weg, welcher sich immer entlang des Flusses Turtmänna befindet, weiter Richtung Talschluß. Nach 13,6 Kilometern säumt in Blüomatt (1.864 m) eine weitere Verpflegungsstation die Route. Wir lassen uns wiederum Zeit zum Stärken und Quatschen, nehmen die angebotene Boullion ("Geht sofort ins Blut!") gleich mehrfach - schließlich friert man, neben den vom Nachtfrost weiß getünchten Wiesen, selbst bei kurzer Untätigkeit schnell. Das Aufraffen zum Weitermarsch ist trotzdem schwer. Noch einen flachen Kilometer gönnt man uns, dann folgt der etwas steilere Anstieg zum Stausee und öffnet kurz darauf den Blick in den weiten Talkessel.
Im Turtmannsee (2.176 m) spiegelt sich der dahinter liegende Turtmanngletscher, umrahmt von Stierbärg und Les Diablons. Auf einem Plateau linkerhand zeichnet die Turtmannhütte ihre Konturen ins Firnament. Dort oben schließt sich für uns in eindreiviertel Stunden die einzige Zeitschranke des Laufes. Nun geht es straff embrüf, wie der Walliser sagt. Der Weg wird wieder alpiner und im oberen Drittel des Anstiegs kommen die ersten beiden Läufer (die zwei Stunden nach uns gestartet sind) an uns vorbei. Zwischen ihnen liegen rund drei Minuten Abstand, welcher sich bis zur Hütte auf eine Minute verringert und auf dem Gipfel wird der Verfolger seinem Konkurrenten dann sogar um 15:33 Minuten voraus sein.
Die Aussicht im Bergauf wird immer spektakulärer, zudem gesellen sich noch Edelweiß am Wegesrand für das nun arg strapazierte Auge. Über eine Stunde vor dem Zeitlimit erreichen wir nach 20,6 Kilometern die Turtmannhütte (Cabane de Tourtemagne, 2.519 m,). Sie wurde 1928 gebaut und gehört zur SAC-Sektion Prévôtoise. Vor dem steinernen Gebäude ist der Verpflegungstisch aufgebaut, an dem wir uns kräftig bedienen. Zudem muß noch der Hüttenstempel ins Stempelbuch und die Trinkflasche aufgefüllt werden. Schließlich gibt es laut vorsichtiger Prognose auf dem Gipfel nur 0,1 bis 0,2 Liter Wasser pro Person als Zielverpflegung. Während unserer Rast sind natürlich weitere Läufer und Wanderer an uns vorbeigezogen, was uns nicht unbedingt in Hektik verfallen lässt. Für den Rest bis zum Barrhorn haben wir nun (theoretisch) bis 16 Uhr Zeit - das wären noch 7:25 Stunden. Definitiv machbar!
Von der Hütte führt uns ein gemächlich steigender Weg zur sogenannten Schlüsselstelle des gesamten Weges, dem Gässi (2.640 m), einem mit allerhand Stahlseilen und Haken versichertem stufigen Felscouloir (T3+) - wo sich nach rund 21 Kilometern die erklommenen Höhenmeter auf 2.000 summieren. Im sich daran anschließenden hochalpinen Gelände nehmen wir zuerst eine Moräne und dann einen glatten Felsrücken, ehe der finale Anstieg auf einem schmalen Schotterweg gen Gipfel führt. Mittlerweile hat mich die Höhe(nluft) auch ganz schön ausgebremst und dementsprechend zäh geht es nun nur noch voran. Linkerhand türmt sich die mächtige Barrwand am Horizont auf. Sie lässt die noch bevorstehenden Mühen nur erahnen, denn kleine bewegliche Punkte auf ihrem Grat oder an der dunkelbraunen Wand zeichnen die Streckenführung detailiert ins Gehirn. Das zehrt!
Nach 6:56:56 Stunden überqueren wir gemeinsam die Ziellinie. Für den letzten Abschnitt von der Hütte zum Gipfel stehen immerhin 2:22 Stunden zu Buche - das ist immens und zeugt von meiner schlechten Höhenanpassung und Untrainiertheit. Egal, oben ist oben! Wir sind ja auch nicht die Letzten in beiden Wertungen. Der Rundumblick ist aufgrund der Bewölkung nicht so grandios, wie am Vortag vom Illhorn (Wir sind ja schon nach zwei Tagen in den Bergen total verwöhnt!). Man erkennt im Dunst (entgegen dem Uhrzeigersinn) am Horizont die Mischabelgruppe mit Ullrichshorn, Dirruhorn, Lenzspitze, Dom, Täschhorn und Alphubel, dazu das Rimpfischhorn und die Dufourspitze. Dem schließen sich im Vordergrund das Brunegghorn, das Weisshorn und die Doppelgipfel des Bishorn an. Dent Blanche, Grand Combin und der Monarch (Mont Blanc) in weiter Ferne runden diese Aussicht stilvoll ab. Am eindrücklichsten ist jedoch der Tiefblick an der steil abfallenden Ostwand auf den rund 400 Meter tiefer liegenden Underen Stelligletscher (3.200 m) mit seinen vielen Spalten.
Nach einer viertel Stunde und 0,2 Liter Flüssigkeit mehr im Körper machen wir uns auf den Heimweg. Noch immer kommen uns Läufer und Wanderer entgegen - einige sichtlich mehr von der Anstrengung gezeichnet, als ich es war. Wir lassen uns zwei Stunden (inklusive Pause) für den Abstieg zur Hütte Zeit. Dort wird dann die üppige Zielverpflegung nachgereicht. Ein VP rund fünf Kilometer nach der Ziellinie - das hat man auch nicht alle Tage! Insgesamt zehn Kilometer und rund 1.700 Höhenmeter im Abstieg schließen sich dem Erklimmen des Barrhorns an, ehe uns ein Bus von Vorder Sänntum nach Gruben bringt. Dort findet die gesellige Abschlußveranstaltung mit Speis und Trank statt. Dabei kommen wir auch nochmal mit der freundlichen Frau von der Startnummernausgabe ins Gespräch. Ihr attestieren wir eine tadellose Organisation, können aber für nächstes Jahr unsere Wiederholung nicht hundertprozentig zusagen - schließlich liegen rund 1.000 Kilometer Distanz zwischen unserem Wohn- und dem Veranstaltungsort und da muß es irgendwie "ranpassen".
Ein Kleinbus bringt uns im Anschluß von Gruben nach Oberems (1.335 m) - vielleicht ist aber auch dies die Schlüsselstelle der Veranstaltung, bei der Enge der Straße und der daraus resultierenden Rangiermanöver? Eine Luftseilbahn nimmt dann über Unterems (990 m) die restlichen Höhenmeter hinab nach Turtmann (638 m). Ein paar hundert Meter sind es noch durch den Ort bis zum Camping- bzw. Fußballplatz. Die Duschen im Clubgebäude des FC Turtmann sind zwar verschlossen, doch dort, wo der Fußballer sonst seine Töppen reinigt, fließt genug (kaltes) Wasser, um sich den Schweiß und Dreck von der Haut zu spülen. Der imaginäre Campingplatz besteht aber noch (wenn auch bloß noch aus unserer Anwesenheit) und sichert uns so noch eine kostengünstige Übernachtung.
Die zweite Ausgabe des Barrhornlaufes beendeten insgesamt 76 Teilnehmer, von denen der Tscheche Tomáš Buryška nach 3:19:36 Stunden als bester der 41 angekommenen Läufer die Zeitmessung auf dem Gipfel passierte. Die schnellste Läuferin, die Schweizerin Pauline Gex, benötigte für die 3.000 Höhenmeter 4:48:21 Stunden. Von den 35 im Ziel gelisteten "Wanderern" (gerade die Frauenwertung stellt diesen Begriff ad absurdum) waren die Schweizer Marco Willisch und Patrick Lochmatter nach 4:37:35 Stunden die ersten Gipfelbezwinger, bei den Frauen Jacqueline Schnidrig nach 4:58:21 Stunden. Ute und ich landeten mit unserer U7-Zeit auf einem gemeinsamen 28. Platz, wobei Ute als einzige Finisherin ihrer Altersklasse "Masters Dames 2" diese dann zwangsläufig auch gewann. In der Altersklasse "Masters Hommes 2" konnte ich mich ganz knapp auf dem vorletzten Platz (7 von 8) einordnen - und das bei einem "Wander"-Ergebnis ;)
Nachtrag (17.12.2022): mittlerweile gibt es auch eine (ausführliche) Internetpräsenz zum Barrhornlauf ... sämtliche Informationen findet man gebündelt unter barrhorn.ch