17.08.2021 | 16:15 Uhr | 1,92 km | 1.000 Hm+ | 0 Hm- | Trainingslauf |
Ein Trainingslauf auf dem vertikalen Kilometer von Fully - das ist für einen Freizeitsportler gleichbedeutend mit einem Feierabend-Fußballkick im Maracana oder einem gestandenen Sprung vom Vikersundbakken. Schließlich ist der Kilometer in Fully bei nur 1.920 Metern Streckenlänge und daraus resultierenden 52% durchschnittlicher Steigung einer der kürzesten und damit steilsten Tausender der Welt. Nur die Verticale du Grand Serre (1.811 Meter) und das This is Vertical Race in Valgoglio (1.800 Meter) sind da etwas "vertikaler".
Seit 2001 wird in Fully, in der Nähe von Martigny/Martinach, dem wettkampfmäßigem Erklimmen der tausend vertikalen Meter auf der ehemaligen Drahtseilbahnstrecke zwischen Belle-Usine de Fully und Garettes gefrönt. Hier wurde 2014 erstmals die 30-Minuten-Marke für den 1.000-Meter-Lauf geknackt (Urban Zemmer - 29:42,741 min) und durch den Südtiroler Philip Götsch im Jahr 2017 bis auf 28:53,41 Minuten gedrückt. Doch in diesen Geschwindigkeitsrausch wollen wir uns nun nicht begeben, sondern nur mal "dabeisein" (wenn auch fast allein) und das außergewöhnliche Streckenprofil unter die Füße und natürlich die Stöcke nehmen.
Am 19. Oktober 2019 fand zum bisher letzten Mal der "Kilomètre vertical de Fully" in Wettkampfform statt. Im Einzelstart-Modus kamen dabei 88 Frauen und 436 Männer in die Wertung und die Spanne der Zielzeiten reichte von 31:36 Minuten (Aymondon Henri) bis 1:56:55 Stunden bei den Männern und von 34:49 Minuten (Christel Dewalle) bis 1:40:32 Stunden bei den Frauen. Die 20. Ausgabe des KMV-Klassikers wurde 2020 abgesagt und auf den 23. Oktober diesen Jahres verlegt. Doch dieses Jubiläum wird nun mindestens noch ein weiteres Jahr auf seine Austragung warten müssen, denn die Organisatoren sehen sich schon jetzt mit zu vielen organisatorischen Zwängen bei einer sehr ungewissen Entwicklung des Geschehens konfrontiert und haben somit den Jubiläumslauf auf den Herbst 2022 verschoben.
Start: Belle-Usine de Fully (500 m üNN) / Ziel: Garettes (1.500 m üNN)
Am späten Nachmittag mache ich mich mit Ute auf, mir einen lang gehegten "Kindheitstraum" zu erfüllen. Etwas oberhalb der "schönen Fabrik" von Fully, genau auf der 500-er Höhenlinie ist der Start der Unternehmung mittels Pflock am Wegrand eingeschlagen. Seit rund einer halben Stunde sind hier schon zwei Personen auf dem Parcours. Sie sind jedoch nicht mehr zu sehen, da die insgesamt kerzengerade Strecke bei rund 260 Höhenmetern einen Rechtsknick in den steilen Hang zeichnet, welchen die beiden zu diesem Zeitpunkt schon lange passiert haben.
Los geht es jedoch erstmal durch einen Weinberg. Die Sonne drückt von oben und der Boden reflektiert die Wärme zurück. Müßig quälen wir uns aufwärts aber wähnen uns, kurz vor den ersten schattenspendenden Bäumen, einen Großteil der Strecke schon zurückgelegt zu haben. Ein Schild stoppt jedoch die kurz aufkeimende Euphorie. Es ist die erste, aller einhundert Höhenmeter aufgestellten Hinweistafeln. Na gut, dann sind es eben noch 900 Meter, dafür aber rund 20 davon im Schatten!
ca. bei Höhenmeter 450 / ca. bei Höhenmeter 100
Nach 400 Höhenmetern taucht man für ein paar Augenblicke oder ein paar Minuten in einen Tunnel ein. Deshalb gilt beim Wettkampfformat auch Helmpflicht. Bei unserem Gegeigel verzichten wir auf dieses sicherheitsrelevante Detail - machen ja auch so generell "recht sachte" den Spaß hier mit. Durch den permanent gleichen Abstand der "Schwellen" ist die Taktung der Schritte auch im Dunkel des Tunnels auf ein unfallfreies Vorankommen eingestellt. Nur auf die Rollen des nicht mehr vorhandenen Zugseils der Bahn ist zu achten, die ab und zu in die Strecke eingelassen sind.
Ein paar Meter weiter oben stößt von einem Weg linkerhand ein weiterer, mit Stöcken bewaffneter Mann auf die Strecke. Er ist drahtiger gebaut und daher etwas schneller unterwegs - biegt allerdings nach rund 200 Höhenmetern rechts wieder vom Kurs. Vielleicht war es ja nur ein Anwohner der sehr übersichtlich am Hang verteilten Kleinstsiedlungen, welcher von der Arbeit im Tal kommend, nur schnell heim wollte?
Abwechslung mittels Tunnnel / regelrecht flacher Abschnitt zum Erholen / relativ steiler Zielanstieg
Nach rund 750 Höhenmetern passieren wir unsere zwei "Vorgänger", mit denen es ein paar Motivationssprüche auf französisch im Wechsel gibt. Danach kämpft jeder wieder für sich allein oder in der Zweier-"Seilschaft". Unterhalb des Ziels wird für ein paar Meter der Schienenstrang verlassen, um einem Podest auszuweichen. Danach ist es nur noch ein Klacks! Die Schritte werden leichter - so wie in den zahlreichen Videos der Zielankünfte beim Wettkampf dokumentiert. Da ist jedoch der Hang auch voll mit Leuten, welche die Sportler lautstark die letzten Meter hinaufpeitschen. Das Tausender-Schild beendet jedenfalls hier wie da abrupt dieses letzte Aufbäumen. Der Körper fällt auf den Boden oder zumindest in die Stöcke. Was die Uhr anzeigt, ist in diesem Moment egal ... was zählt, ist: geschafft, endlich oben!
Der Abstieg ins Tal ist dann ein wenig länger, dafür ist der eben begangene Weg viel zu steil. Doch damit können wir leben, schließlich sind es die ersten knapp fünf Kilometer und 1.040 Höhenmeter des Berglaufklassikers Fully-Sorniot (7,95 km / 1.617 Hm+ / 16 Hm-), wenn auch für uns nur bergab. Am 26. September findet dieser Mythos zum 47. Mal statt - zum 47. Mal übrigens ohne uns. Als Otto Normalläufer kann man schlecht auf jeder Hochzeit tanzen. Jedenfalls sind der gestandene Sprung vom Vikersundbakken oder das Match im Maracana mit dem heutigen Tag nicht mehr von Nöten - man hat ja immerhin den Kilomètre vertical in Fully absolviert.