29.10.2022 | 7:40 Uhr | 160 km | 1.940 Hm+ | 1.940 Hm- | Saisonabschlußfahrt |
Zum Abschluß der Radelsaison soll es noch einmal schön gemütlich und im überschaubaren Umfang über den Erzgebirgskamm ins Böhmische gehen. Dort werden dann, zur Belohnung für das in den Sommermonaten im Sattel sitzend geleistete, die letzten vorhandenen tschechischen Kronen vor dem Zugriff der Inflation gerettet und in süffiges böhmisches Bier getauscht. Damit dieser Ausflug jedoch nicht zur profanen "Sauftour" abgestempelt wird, gibt es eine Erweiterung des geographischen Horizonts mit dem Besuch der Aussichtsberge Plattenberg und Kupferhübel.
Als Vorlage für den Ausflug dient eine Radpartie meines Bruders Andreas vom 4. Juni 2000, der neben dem Plattenberg und dem Kupferhübel auch noch den Keilberg in seine Runde eingebaut hatte. Damit dann die 200 Kilometer auch voll wurden, gab es für ihn noch den 14%igen Anstieg von Kemtau nach Eibenberg (Anbau), welcher oft als Bergwertung bei der Erzgebirgsrundfahrt genutzt wurde. Seine Fahrradtacho-Aufzeichnungen von damals wiesen demzufolge immerhin 200,05 Kilometer in 7:20:20 Stunden auf, was einem Schnitt von 27,25 km/h entspricht (Maximalgeschwindigkeit 70,2 km/h). Unbeeindruckt von diesem Zahlenwerk, besteht Tilos Auftrag nun darin, eine Route in der Größenordnung von rund 100 Meilen zu kreieren, dessen Ergebnis wir dann zu viert (Ute, Siggi, Tilo und ich) unter die Pneus nehmen werden.
Draakschenk Breitenbach
Schon gegen halb acht ist Treff vor unserem Anwesen, denn die Tage werden wieder kürzer und eine Ankunft im Hellen kann trotz "frühem Radfahrer (fängt fährt nur bei Tageslicht)" nicht garantiert werden. Während Tilo und Siggi schon ordentlich warmgefahren sind, müssen Ute und ich erst noch in die richtige Trittfrequenz finden. Der sanfte Anstieg durch das Zwönitztal ist dafür wie geschaffen. Erst dann schließen sich die ersten Hügel an - für mich ist allerdings die schier endlose Abfahrt in Beierfeld der Horror. Da gibt es weiß Gott schöneres Bergab. Über Schwarzenberg und Johanngeorgenstadt trudeln wir entspannt weiter Richtung Breitenbach (Potučky). Der Trubel ab Grenzübergang ist aufgrund der immensen Händlerdichte enorm, beruhigt sich jedoch genauso schnell wieder, je weiter es zum Ortsausgang geht. Dort steht (fernab jenes Auflaufs) die Dreckschänke am Straßenrand. Ein Gebäude, welches nach seiner Vertonung ("De Draakschenk") durch Anton Günther im Jahre 1904 weit über das Erzgebirge hinaus bekannt wurde. Der erzgebirgische Volksdichter würdigt darin seinen mehrtägigen (angenehmen) Aufenthalt in dem Wirtshaus, dessen Name eher das Gegenteil vermuten lässt. Wenn man sich ferner das Gästebuch des späten 19. Jahrhunderts zu Gemüte führt, als die Wirtschaft noch "Hahn's Gasthaus" / "Hahn's Gasthaus vulgo Dreckschänke" hieß, kann es mit der Hygiene im Haus nicht allzu schlecht bestellt gewesen sein, denn die Namen von Prinz Adalbert von Preußen, Prinz Karl von Preußen, Prinz Wilhelm von Schaumburg-Lippe, König Wilhelm I. von Preußen, König Johann I. von Sachsen, Kaiser Friedrich III. von Preußen und Fürst Otto von Bismarck tauchen darin auf.
Für unser erstes böhmisches Bier müssten wir vor Ort noch ein Weilchen warten oder eben weiterziehen, denn die "Legende des Sudetenlandes" wird wohl noch ein paar Jahre bis zur Wiedereröffnung benötigen. Derzeit sind die Renovierungsarbeiten im vollen Gange und können durch Spenden beschleunigt werden. Bleibt zu hoffen, daß dem ortsansässigen Eigentümer nicht vorzeitig die Luft ausgeht, wie es die Draakschenk nach 1991 schon mehrfach erlebte. Auch uns sollte nun nicht die nötige Puste fehlen, denn der Anstieg zum Plattenberg (Blatensky vrch) steht bevor - unterbrochen nur durch einen kurzen (aber zwingend notwendigen) Zwischenstop in Platten (Horní Blatná) zum langersehnten Halblitergetränk der Marke Kozel.
Plattenberg (1.043 m üNN)
Nach dieser kurzen Auszeit führt uns die Straße weiter schnurgerade aus dem Ort zum Parkplatz in Gipfelnähe. Sichtlich gezeichnet von Untrainiertheit und Anstieg erreiche ich als abgeschlagener Letzter unsere Sammelstelle. Es sind noch 700 Meter buckliger Waldweg bis zum Gipfelplateau. Nun brauch ich ja nicht gesondert erwähnen, daß ein Berg auch auf Radfahrer eine spezielle Anziehungskraft besitzt. Dementsprechend wird dort (egal ob nun explizit erwähnt oder nicht) der Bergkönig (oder zumindest der Gewinner der Bergwertung) gekrönt. Natürlich hat mich dabei niemand auf dem Zettel - zu schwach war meine bisherige Vorstellung am heutigen Tag (und in der gesamten Saison). Doch es geht relativ flach dahin. Tilo kann ich dabei schön in ein Gespräch verwickeln und rund 150 Meter vor dem Ziel zum entscheidenden Sprint ansetzen, der für meine "Verfolger" so nicht eingeplant war. Gefahrlos bringe ich das Ding heim. Jaaaa! Dieses Erlebnis tut gut. Wortlos (etwa mit Klos im Hals?) folgen Tilo, Ute und Siggi.
Bier und Limonade
Doch Gambrinus vom Faß glättet anschließend die Wogen - gesponsert von Siggi, dem etatmäßigen Bergwertungsspezialist, der heute nur hinterherrollte. Ein Besuch auf dem 21 Meter hohen und 1913 erbauten Erzherzogin-Zita-Turm ermöglicht einen phantastischen Erzgebirgsblick. Doch wir müssen weiter! Gottesgab (Bozí Dar) ist unser nächster VP. Dort gibt es zum Bier (resp. Limonade) auch feste Nahrung (Knödel, was sonst?), um gestärkt den weiteren Weg zu meistern. Dieser steigt nun kontinuierlich zum Keilberg (Klinovec) an, biegt jedoch bei der einst höchstgelegenen Ansiedlung des Erzgebirges, den Sonnenwirbelhäusern (1.150 m, nach Vertreibung der hier ansässigen Deutschen abgerissen), Richtung Stolzenhain (Háj) ab.
Wagnerberg (1.054 m üNN, oben), Großer Spitzberg (965 m üNN, unten)
Oberhalb des Ortes nehmen wir die rechte Spur nach Oberhals (Horní Halze) und Kupferberg (Medenec). Auch hier bin ich weit hinter dem Fahrerfeld, diesmal wegen der Fotomotive Nordböhmisches Becken und Kupferhübel (Vrch Medník). Fairerweise sammelt sich unser Quartett ebenfalls am Parkplatz der motorisierten Gipfelstürmer. Nun sind es noch ein paar dutzend Höhenmeter bis zum Turm, für die zwei Wege angeboten werden. Beide sind offensichtlich nicht für Rennräder geeignet. Für den Schlußanstieg trennen wir uns nun. Während Ute, Tilo und Siggi den breiteren (scheinbar längeren und damit flacheren) ehemaligen Fahrweg wählen, kämpfe ich mich (das Rad geschultert) den steilen Fußweg hinauf. Natürlich volle Pulle ... mit Erfolg ... auch die zweite Bergetappe des Tages geht an mich. Von umstehenden Passanten würde ich mir jetzt dafür gern auf die Schulter klopfen lassen, verkneife mir aber die Bitte dahingehend, da mein Tschechisch so schlecht ist. Genugtuung ist dann das Dokumentieren der mir folgenden Plätze dieser ganz besonderen Bergwertung. Wie auf dem Plattenberg folgt Tilo auf zweiter Position, Ute wird Dritte und Siggi wird wiederum nur Vierter - gleichzusetzen mit einem Erdbeben in der Radsportabteilung des BLV. In Siggis Erklärungsnot vor Präsidium und Mitstreitern möchte ich da nicht stecken.
Kupferhübel (910 m üNN)
Leider gibt es auf dem Kupferhübel keine Gastwirtschaft (mehr), um auf diesen großartigen Erfolg anzustoßen. Dafür sind wir ein paar Jahre zu spät, denn früher gab es hier gastronomische Versorgung, wie eine Tafel verkündet ("Am Gipfel des Kupferhübels standen im Laufe der Jahre 1873 - 1939 drei Hotels. Bei allen drei Objekten kam es zum Brand. Nach dem Jahr 1939 kam es nicht mehr zum Bau eines weiteren Hotels.") Dazu sind die ehemaligen Gipfelhotels abgebildet: ein Hotel im Schweizerhausstil, das von 1873 bis zum 26. April 1924 Bestand hatte; das Gast- und Unterkunftshaus "Kupferhügel", welches am 25. Juli 1925 eingeweiht wurde und am 11. März 1935 vollständig abbrannte; sowie die sogenannte "Elsterbaude" mit Einweihung am 14. November 1936 und teilweiser Vernichtung durch Brand am 5. August 1939. Nur noch die Kapelle "Unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria", als weithin sichtbares Türmchen, gibt heute dem Berg sein unverkennbares Äußeres. Sie ist jedoch nur zu bestimmten Anlässen für die Öffentlichkeit zugänglich.
Bergwertung Kupferhübel (wie auch am Plattenberg): Tilo (2. Platz), Ute (3. Platz) und Siggi (4. Platz)
So langsam müssen wir uns jetzt auf den Heimweg machen, auch wenn es noch Nachmittag ist. Es geht hinab zur Preßnitztalsperre (Vodní nádrz Prisečnice) und weiter nach Pleil-Sorgenthal (Černy Potok). Dort gibt es kurz vor dem Grenzübertritt nach Jöhstadt noch einmal die Möglichkeit untereinander mit böhmischen Bier zuzuprosten (so zumindest unsere Erinnerung), doch dieser Verkaufsstand (mehr wäre es nicht gewesen) hat leider schon geschlossen. Vielleicht ist es auch ganz gut so, denn immer schneller kündigt sich die bevorstehende Dunkelheit an. Ein Höhenweg über Grumbach und Arnsfeld nimmt nun einen längeren Anlauf, um hinab zur Preßnitz zu gelangen. In Niederschmiedeberg biegen wir dann ins Preßnitztal ab und folgen ab Wolkenstein der Zschopau flußabwärts. Ein letzter langgezogener Anstieg durch Weißbach und die Mühen des Tages sind für uns (zumindest für Ute und mich) vollbracht.
Andy am 04.06.2000 auf dem Kupferhübel / Klein-Weißbach bei Sonnenuntergang
Der finale Weg durchs Zwönitztal ist aufgrund der schlechten Ausleuchtung der mitgeführten Lampions recht abenteuerlich, mit 160 Kilometern (und einem Schnitt von 22 km/h) verabschieden wir uns in Altchemnitz vom diesjährigen "Radsport" und von Tilo und Siggi. Beide werden in den nächsten Tagen und Wochen süffisant lächelnd ihre Stahlrösser weiter maltretieren, schließlich ist noch lange kein Schneefall in Sicht und selbst dann wäre ich mir nicht sicher, ob sie von ihrer Berufung die Finger lassen. Siggi macht übrigens auf seinem Heimweg die 200 noch voll (203 km), warum Tilo da nicht noch mitgezogen hat (175 km), bleibt mir ein Rätsel. Vielleicht haben Ute und ich ihn tagsüber doch zu sehr ausgebremst, daß ihm die Lust auf Sonderschichten vergangen ist? Uns hat es jedenfalls gefallen und können den Start in die neue Saison kaum erwarten ;)