16.11.2019 | 10 Uhr | 42,195 km | 188 Hm+ | 188 Hm- | Gruppenlauf |
Mitte November wird es allerhöchste Eisenbahn, denn die Zeit drängt - um beim wirklich wichtigen Marathon am Heiligabend überhaupt mitschwimmen zu können, ist nun eine entsprechend komprimierte Vorbereitung daraufhin von Nöten. Der Bornaer Marathon bietet dabei mit seinen fünf verschiedenen Leistungsgruppen die vielleicht beste Möglichkeit als so eine Art Rookie wieder in den Mythos Marathonlauf zurückzufinden. Er vermittelt auf spielerische Art und Weise, wie ein Zweiundvierziger den Beinen schmecken kann und wie er vom Kopf aufgenommen wird ...
Als Neueinsteiger orientiert man sich dabei am besten an der Konkurrenz und die heißt nun mal Burgstädter Laufverein. Die haben dort irgendwie ein Bein in die Tür des Veranstalters gekriegt und sind dort Stammgäste. Jedoch wurde die Gastfreundschaft der Bornaer Volkssportler in den letzten Jahren schon recht schamlos von ihnen ausgenutzt. Da gab es für die Neongelb-Schwarzen aus dem Chemnitzer Norden extra maßgeschneiderte Sonderwertungen, damit sie überhaupt noch irgendwie eine Teilnahmeberechtigung bei dieser Veranstaltung hatten - "Bike & Run" nannte sich so etwas dann und hat mit dem herkömmlichen Marathonlauf nun wirklich nichts gemeinsam. Doch so sind sie es von ihren Golf-Turnieren nun einmal gewohnt - für die langweiligen Strecken zwischen den Hotspots kommt da das Golfcart wie gerufen. Logisch, daß man beim Marathon dann auch nur die euphorischen Streckenabschnitte, entlang malerischer Uferpromenaden oder vollbesetzter Zuschauermagnete und natürlich den triumphalen Zieleinlauf zu Fuß absolvieren möchte ... für den Rest gibt es ja Fahrzeuge!
Doch diesmal hat dieser Extrawurst-Spuk ein Ende. Sigfried-Enrico ist der letzte noch verbliebene Radfahr-Renner aus dem Burgstädter Tross. Wieso und weshalb er seine zweite Persönlichkeit urplötzlich ablegt und unter dem Pseudonym "Siegfried" den Kurs komplett zu Fuß in Angriff nehmen will, bleibt ungeklärt. Vielleicht hat er im Vorfeld Drohungen erhalten? Vielleicht ist ja auch Sigfried-Enricos Fahrrad kaputt? Fragen, auf die es selbst während unserer gemeinsamen Anreise keine schlüssigen Antworten gibt. Egal! Der Veranstaltung und insbesondere dem Marathonsport tat diese Entscheidung Sigfried-Enricos richtig gut.
So kommt es, daß sich Ute und ich, neben Diana, Stefan, Jochen, Sven und eben jenen "Siegfried" vom BLV im Startblock des Fünf-Stunden-Feldes wiederfinden. Fünf Stunden Zeit für die Bewältigung der Marathondistanz! Das ist wirklich ein großzügiges Angebot, um sich an diese Sportart wieder heranzutasten. Zwar dürfen wir nicht mit auf deren Mannschaftsbild, welches vor dem Start noch hastig (diesmal witterungsbedingt ohne die kunstvollen Licht-Schatten-Effekte, wie beim Weinlauf) für den Burgstädter Anzeiger geschossen wird. Dies liegt jedoch nicht an der vermuteten Antipathie zwischen unseren Vereinen, sondern an der Zurschaustellung konkurrierender Kreditinstitute, welche sich den beiden Vereinen gönnerisch verschrieben haben. Mit dem Startschuß sind diese gravierenden Unterschiede Schall und Rauch! Jetzt sind wir alle eins - Marathonläufer! (Wie pathetisch!)
Das erste Pollerpaar, welches nach gut 50 Metern den Fußweg eingrenzt, gehört glücklicherweise nicht unserem Septett. Ein anderer Teilnehmer riskiert dort seine Zeugungsfähigkeit und gibt damit ein erstes warnendes Signal an das 22-köpfige Feld, daß die Marathondistanz nicht nur aus dem "Mann mit dem Hammer" ab Kilometer 35 besteht, sondern auch schon auf den ersten Metern recht unangenehm daherkommen kann. Fortan gilt diesen Hindernissen (u.a. Verkehrsschilder und abgeparkte Pkw) die besondere Aufmerksamkeit, schließlich wollen sich doch alle Teilnehmer am späten Nachmittag als Marathoni, als Marathon-Finisher, auf die Schulter klopfen können.
Obwohl fünf Stunden jede Menge Zeit sind, ist die ganze Geschichte rund um Borna doch recht kurzweilig. So ganz nebenbei erfährt man, daß die Burgstädter über eine gewisse Marathon-Erfahrung verfügen. Da gibt es Andeutungen von der Vorwoche aus Athen oder vom Jahre 2011 aus Luzern. Ob dabei unliebsame Streckenabschnitte mit dem Fahrrad überbrückt wurden, lassen sie unbeantwortet im anfänglichen Nebel des Tages stehen. Eines ist jedoch nicht zu übersehen: "Siegfried", kurz Siggi, läuft auf Bewährung. Er ist der einzige, der nicht die Leuchtfarben seines Vereins zur Schau stellen darf. Dafür bedarf es erst eines protokollierten Marathon-Finish's - ja, die Sitten im Nachbarverein sind hart, aber durchaus nachvollziehbar. Siggi soll zeigen, daß er seine zweite Persönlichkeit (den Radfahrer Enrico) wirklich abgelegt hat und nun in der Lage ist, einen Marathon eigenständig zu bewerkstelligen.
Die Bedingungen dafür sind bestens: naßkalte 5°C bei wolkenverhangenem Himmel - sog. Bestzeitenwetter, dazu noch ein halbes Dutzend Verpflegungsstände vom Veranstalter, sowie der private Markus-Drescher-Familien-Fanclub-Glühweinstand und so ziemlich zu Beginn eine Elektro(lyt)-Ladestation. Ausreden für ein Scheitern sucht man daher vergeblich! Zudem wird die traute Eintracht, welche vor dem Start auf dem Mannschaftsbild der Burgstädter für die Nachwelt eindrucksvoll manifestiert wurde, auch gelebt. Das heißt, der Einzelne ordnet sich der Gruppe unter und bringt sich für den Schwächeren ein. Doch diese Schwächelnden sucht man in den Reihen der Gelben vergeblich. Wie Uhrwerke nehmen deren Beine Meter um Meter und "Siegfried" läßt sich von dieser Maschinerie, diesem Gruppenzwang instinktiv mitreißen.
Die Marathonrunde ist ein Streifzug durch die jüngere Geschichte der Region, welche vom Kohleabbau radikal verändert wurde. Von der Glück-Auf-Halle in Borna wird auf der gegenüberliegenden Seite der A72 der Bockwitzer See tangiert und weiter Richtung ehemaliger Brikettfabrik Neukirchen gelaufen. Vorbei am Speicherbecken Borna (genannt "Adria") und der Ortsquerung von Lobstädt wird Kahnsdorf am Hainer See angesteuert. Nach dessen Umrundung führt der Weg durch Haubitz zurück nach Borna - so die kurze Streckenbeschreibung.
Natürlich darf man sich bei seinem Marathon-Wiedereinstiegs-Debüt auch noch Fehler erlauben, die man in so einer Art als besonnener Marathoni nie getätigt hätte. Experimente bei der Königsdisziplin des Laufsports sollte man vermeiden. Doch Übermut und Arglosigkeit lassen mich am VP bei Kilometer 29 einen fatalen Fehler begehen. Ich verlange einen Becher Iso, "weil ich es sonst nicht mehr bis ins Ziel schaffe", so der Originalton meinerseits zum Ausschankpersonal. Freundlich wird dieser Aufforderung nachgekommen, doch nur wenige hundert Meter später spüre ich die sofortige Gegenwehr meines Körpers auf diese Getränkeart. Meine Schrittfrequenz wird urplötzlich höher, der Laufstil geradliniger und mein Blick verliert sich im Tunnel. Glücklicherweise wird am Hainer See mit Krampf jede sich noch bietende Lücke mit Betonburgen ausgefüllt und dabei zur Genüge an die menschlichen Bedürfnisse der Ausführenden gedacht. So ist eine der blauen Plastekabinen am Baustellenzaun meine Rettung und sichert somit auch die restlichen Kilometer des Marathons für mich.
Doch es gerät noch mehr aus den Fugen, mehr als nur mein Magen-Darm-Fauxpas, denn mit zunehmender Dauer gewinnt der Wettkampfgedanke bei diesem Gruppenlauf für die Burgstädter immer mehr an Bedeutung. Jeder für sich, oder zumindest jedes Duo für sich! Ich versuche dabei zwischen den versprengt wirkenden Kleinstgruppen zu vermitteln und pendle tempomäßig hin und her. Keine Chance! Marathonlauf ist nun mal kein Mannschaftssport! In den Marathon-Zielzeiten spiegelt sich der gesellschaftliche Stand des Läufers wider. Es gibt also keine vernünftige Lösung! Als jedoch einer der Neongelben die letzte Verpflegung in Haubitz links liegen läßt, verstehe ich die Welt nicht mehr. Dort stehen zwei Kästen Pils, die kann man doch nicht ignorieren! Es grenzt an Majestätsbeleidigung - Blasphemie! Gäbe es einen Laufsport-Gott, würde er diesen Sünder auf den letzten Metern zum Ziel jämmerlich einbrechen lassen, damit er für diese Unsitte ordentlich bezahlt! Ja, solche Wünsche kommen sogar von Atheisten, denn dies ist eine der abartigsten Verfehlungen im Breitensport ... die Mißachtung des Ehrenamtes, das Ignorieren der Arbeit der freiwilligen Helfer!
Für Marathon-Wiedereinsteiger Siggi wird es gen Ende recht zäh. Mich geht es zwar nichts an, wenn andere übernatürlich leiden, wenn sie mir damit aber meine (fest eingeplante) Zielzeit kaputt machen, hört für mich der Spaß auf. Also gibt es Klartext! Entweder es gibt daraufhin eine Trotzreaktion oder er landet unsanft im Straßengraben. Aufgrund meiner deutlichen Wortwahl entscheidet sich Siggi für erstgenannte Variante und ich muß daher nicht noch groß regulierend eingreifen. Flankiert von den Limbacher Bewährungshelfern Ute und mir schwebt der Delinquent nach 4:51:11 Stunden (nach außen hin) regelrecht schwerelos im schönsten Ziel (von Borna) ein. Zähneknirschend müssen seine Vereinskollegen dieses grandiose Finish (nach soooo langer Abstinenz Siggi's vom Ausdauersport) aus nächster Nähe mitverfolgen, schließlich waren Sven, Stefan und Jochen nur eine Zeigerumdrehung (des großen Zeigers) vor ihm im Ziel, was deren Fluchtversuch auf den letzten drei Kilometern mehr als schmälert. Da wird es sicherlich ordentlich rumoren, wenn sie beim nächsten Rapport bei der Chefin antreten müssen - aber das soll auch nicht mein Problem sein!
Siggi ist zurück! ... dies kann nur die einzig nachvollziehbare Schlagzeile zum Borna-Marathon im nächsten Burgstädter Anzeiger lauten. Zudem wird "Siegfried" seine nächsten sportlichen Aktivitäten nicht mehr im blauen Büßergewand (in Anspielung auf die Vereinsfarben des LV Limbach 2000) abtun, sondern im neongelben Antlitz seiner Vereinskameraden zelebrieren, die ihm dann aber auch als Ersthelfer zur Seite stehen müssen, wenn es nicht so läuft. Da sind wir Limbacher dann raus. Ob sie jedoch auch in äußerst kritischen Situationen so gefühlvoll und fruchtend motivieren können (wie ich es heute mußte), bleibt abzuwarten.
Ach ja, Diana ist auch noch im Ziel angekommen! Natürlich interessierte das niemand ihrer Mitstreiter. Halt, das war jetzt etwas falsch ausgedrückt: währenddessen sicherte die schnelle Männerabteilung des BLV im Foyer der Turnhalle schon mal die Plätze an den Biertischgarnituren, damit nicht alle verstreut im Saale sitzen müssen. Denn nur so kann eine ordnungsgemäße Zusammenfassung des Tagesgeschehens vereinsintern abgehalten werden. In diesem Verein stimmt eben die Chemie und er kommt nach außen hin so sympathisch 'rüber! ... erst recht mit dem neuerlichen Verzicht auf Sonderregelungen und Extra-Streicheleinheiten.
Der Bornaer Marathon stellt in meinem persönlichen Marathon-Wiedereinstieg auch eine klitzekleine Streicheleinheit dar. Jetzt heißt es aber: nicht locker lassen, dran bleiben, die Zeit bis Weihnachten ist kurz und muß intensiv genutzt werden! Morgen ist Sonntag - Ruhetag! Schließlich gehören Regeneration und Pause zu jedem Trainingsplan, egal wie komprimiert er ist.
Zu guter Letzt geht ein Dank an Frank! Es ist nämlich sein Fuß, der in der Tür des Borna-Marathon-Veranstalters klemmt. Er hat persönlich bei Ute und mir eine Willensbekundung zur Teilnahme erfragt und diese dann auch mit einer Anmeldung dingfest gemacht.
Fotos: Diana Hermsdorf (1), Sven Kleinert (2), Ute Herfurt (4), Thomas Delling (11).