08.10.2022 | 9:45 Uhr | 30 km | 250 Hm+ | 250 Hm- | Genußlauf |
Es ist noch recht zeitiger Abend auf dem Betriebshof der Meißner Verkehrsgesellschaft. Einer der vielen hier abgestellten Reisebusse wartet geduldig auf seine Abfahrt Richtung Heimat und in ihm, nicht minder angespannt, rund 50 Teilnehmer des Weinlaufes. Derweil versuchen vier Businsassen im nahen Festzelt die noch vor sich stehenden Bierkrüge Nummer 3 oder 4 in sich zu pressen. Es ist eine Mammutaufgabe, welche aufgrund des Füllstandes mit der beträchtlichen Tagesration Wein auch noch unter immensen Zeitdruck stattfindet. Diese gelingt - jedoch nicht in dem dafür vorgesehenen zeitlichen Rahmen. Mit Applaus wird das Quartett daher auch nicht begrüßt, als es eine halbe Stunde nach offiziellem Fahrplan am Bus eintrifft.
Am frühen Morgen ist dies noch völlig anders. Da muß man sich an Abfahrzeiten halten, denn eine Verspätung des Passagiers im ÖPNV ist gleichbedeutend mit dem frühzeitigen Ausschluß aus der Transportkette von Chemnitz via Burgstädt nach Meißen. Während die Bahnfahrt nach Burgstädt noch halb vor-sich-hin-schlummernd vergeht, trifft man im Reisebus zum Lauf schon auf die ersten Saufkumpanen, äh Laufkumpels. Mit ihnen werden auf der recht kurzweiligen Fahrt die besten 30-km-Läufe der Welt durchphilosophiert - mit dem einhelligen Ergebnis: es geht doch nichts über den Dreißiger von Meißen!
Der Tag wird sicherlich wieder lang und entbehrungsreich, so die teils nur schemenhaft vorhandenen Überlieferungen der bisherigen sechs Teilnahmen am "genußorientierten Landschafts- und Erlebnislauf". Damit der Einstieg vom tristen Alltag in diese bevorstehenden Launen des mondänen Weingenußes nicht zu abrupt beginnt, erfolgt die unabdingliche Einstimmung mit der Ersatzflüssigkeit Bier, noch bevor Meißener Boden betreten wird. Dabei gelten natürlich die gleichen Regeln wie beim Ritual der Weindegustation: eine schräg an die Nase gehaltene Bierflasche vermittelt dem Trinker schon mal grob die bevorstehende geschmackliche Reise des Hopfengetränks. Das Farbspiel des Gebräus wird danach fachmännisch gegen das Sonnenlicht kontrolliert, wobei ein Blick auf das Etikett der Flasche auskunftsreicher erscheint. Dann wird der erste Schluck hörbar schlürfend in den Mund manövriert, wo er nach kurzer Verweildauer dem Magen zugeführt wird. Eine kurze Einschätzung des eben Erlebten, verbunden mit schwülstig verpackten Textbausteinen aus dem Winzervokabular runden diese Zeremonie kultiviert ab. Klar ist, daß man mit diesem Gehabe die (neidischen) Blicke der Umstehenden auf sich zieht, jedoch dann schon "warmgelaufen" ist, wenn es an den Weinverkostungstischen hart zur Sache geht.
Mit einem Kanonenschlag beginnt pünktlich 9:45 Uhr der 30-Kilometer-Frühschoppen. Entlang der Elbe werden nun die Weinverpflegungsstellen bis Diesbar-Seußlitz abgeklappert. Während dieser Dauerflüssigkeitszufuhr kann es auch schon mal passieren, daß man sich fälschlicherweise etwas Festes (in Form von Obst, Wurst oder Eiern) in den Rachen schiebt. Der Fokus liegt jedoch auf dem vergorenen Rebensaft, der meist in helleren Farben gereicht wird und so die Geschmacksnerven nicht sonderlich fordert, sondern durch diese Monotonie eher abstumpft. Auch auf dem Rückweg durch die Weinberge bleibt der Rotwein eher "Bückware". Zum Neutralisieren der unterdessen arg beeinträchtigten Geschmacksknospen hilft ein unterwegs erbeutetes Dresdner Industriebier, welches für diesen Zweck völlig ausreichend ist.
Auch in diesem Jahr bleibt das vom Veranstalter gesetzte Zeitlimit von uns unerreicht. Nach 7:48 Stunden erreicht unser Quartett völlig entkräftet, aber überglücklich den Zielbogen (mit Zielzeitentwerter). Neues Leben in uns wird kurz darauf durch das Bier im Festzelt geweckt. Der weitere Wertegang wurde anfangs bereits erwähnt: mehrere Dutzend Sportler, die den Weinlauf in sechs Stunden (oder gar noch schneller) über die Bühne gebracht haben, sitzen leicht angesäuert im Bus und warten auf die untrainierten Schwächlinge, die ihrerseits jedoch einen wunderschönen Tag entlang der Elbe und in den Weinhängen verlebten. An einer der ersten Ausschankstationen haben wir irgendwie das Tempo der gelb-schwarzen Bustruppe nicht mehr mitgehen können und waren fortan auf uns allein gestellt. Solch eine Unzulänglichkeit verzeiht dir dieser "Lauf" eben nicht! Mit der Anzahl der Weingläser nimmt die Schwere der Beine zu. Schwere Beine vermitteln automatisch ein Gefühl von Schwäche. Gegen Schwäche hilft in erster Linie Trinken, viel Trinken. Diesen Teufelskreis durchbricht der Ab-und-zu-mal-Jogger nicht so einfach. Der richtige (gelernte) Läufer sieht dort seine Stärke und geht, die Schwäche der anderen ausnutzend, auf Bestzeit! Das steckt nun mal so drin - doch wir sind von dieser Wettkampf-DNA meilenweit entfernt.
Auch dieses Jahr bekommen die 30-Kilometer-Schleife und deren Unterdistanzen um Meißen von der (gesamten?) Busbesatzung die volle Punktzahl - schließlich ist das Engagement der Veranstalter und Unterstützer in einer solch schwierigen Zeit nicht hoch genug zu loben.