30.06.2018 | 10 Uhr | 24 Std. | 1.199,19-m-Runde | 5 Hm+ / 5 Hm- |
Es ist eine Lehrstunde in 24facher Ausführung, die ich ein Wochenende lang über mich ergehen lasse. Es wurde ja auch mal wieder Zeit, sich so eine richtige Ohrfeige abzuholen, um in der Zukunft die eigenen Erwartungen, den Umständen entsprechend, herunterzuschrauben - der Mensch lernt eben nur durch Qualen! Damit dies auch bei mir ankommt, muß ich 119mal ein Schild mit der Aufschrift "Der Schmerz geht - der Stolz bleibt!" passieren, welches sicherlich gebrochene Seelen aufrichten und zum Weitermachen animieren soll. Es motiviert mich jedoch keineswegs, da ich von Anfang an weiß: es wird sich kein Stolz bei mir einstellen und diese verfluchten Schmerzen werden erst verschwinden, wenn ich meine Lektion gelernt habe.
Nun also doch wieder ein 24-Stundenlauf? Spätestens nach dem kläglichen Scheitern bei der Deutschen Meisterschaft in Gotha im September 2017 ist diese "tagesfüllende" Sportart für Ute und mich Geschichte. Es war damals der zweite Abbruch in Folge, nachdem wir auch schon 2016 in Reichenbach nicht bis zum Ende auf dem Rundkurs geblieben waren. Der Kopf triumphierte jeweils über den Körper - die Bereitschaft, sich zu quälen, war irgendwie abhanden gekommen. Trotzdem siegte auf der Schleife um Schloß Friedenstein letztendlich die Vernunft, die diesmal gar nicht erst zum Zuge kommt, weil fehlendes Lauftraining mit der daraus resultierenden Ausgeruhtheit gegengerechnet wird. Außerdem wären die Übungen zur Stabilisierung des Rückens, welche ich seit einem dreiviertel Jahr praktiziere, ein hervorragendes Ausgleichstraining. Mein Kopf weiß zumindest, wie er die sportlich unterbelichtete Situation am besten zu vermarkten hat.
Warum aber meldete ich mich trotzdem für die "Lange Nacht" und die noch viiiiiel längeren Tagesabschnitte von Reichenbach an? Wollte ich mir unbedingt beweisen, daß ich mich (auch ohne spezielle Vorbereitung) irgendwie durchsetze und somit die Schmach der letzten beiden Vierundzwanziger tilgen kann? Die Voraussetzungen für ein weiteres krachendes Scheitern könnten nicht besser sein, denn gerade einmal drei längere Läufe in diesem Jahr bilden nun mal keine Grundlage für einen soliden Abschluß eines 24-Stundenlaufes! Vielleicht war es auch das 30. Jubiläum und die Extra-Einladung via E-Mail, welche mich veranlaßten, meine Zweifel zu überdenken und diese Sache nochmal in Angriff zu nehmen. Außerdem würde dieses Reichenbacher Jubiläum mit meinem 40. Ultralauf-Wettkampf zusammenfallen, zudem wäre es mein zehnter 24-Stundenlauf, wenn ich den 48er von Gols als zwei 24er zählen würde. Es gibt sicherlich (rechnerisch) noch mehrere gute Gründe, im Vogtland an die Startlinie zu treten ... den wahren Grund kann selbst ich nicht mehr eruieren. Fakt ist: zum sechsten Mal nehme ich nun auf dem Rundkurs zwischen Stadion und Wasserturm teil und es wird ein Potpourri aus jeder Menge Qualen, wenigen lichten Momenten, fortwährenden Zweifeln und endlos erscheinender Selbstzerstörung.
Schon beim Abholen der Startunterlagen werde ich mit der Frage konfrontiert, warum ich denn diesmal allein an den Start gehe. Tja, es gibt eben noch vernünftige Leute, die ihren Trainingszustand für so eine Mammutaufgabe besser einschätzen können! Dieses Argument ist natürlich nachvollziehbar, dafür hätte ich nun aber 24 Stunden Zeit, mein sportliches Defizit etwas zu tilgen, so die salomonische Antwort seitens des Veranstalters. Und das soll auch diesmal mein Ziel sein - sich bis zum bitteren Ende am Rundendrehen beteiligen, egal wie bescheiden es läuft!
Mein Basislager am Rand der Tartanbahn des Stadions richte ich mir diesmal spartanisch ein: Tisch, Stuhl, Wäschekorb mit Wechselsachen und ein paar Getränke, die nicht auf der Karte des Verpflegungspunktes aufgeführt sind. Auf Rückzugsgebiete, wie ein Zelt als Wohlfühloase, verzichte ich, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, diese in Anspruch zu nehmen. Die Zeit bis zum Start vergeht rasend schnell - die Reichenbacher Schalmeien und die obligatorischen Gespräche mit der "Konkurrenz" sorgen dafür.
Punkt 10 Uhr geht es für 70 Einzelläufer und fünf Vierer-Staffeln auf die Reise. Der Himmel ist wolkenlos und das Thermometer pegelt sich um die 23°C ein, dafür bläst ein recht kühler Wind, der die Hitze ganz erträglich macht. Meine ersten Rundenzeiten sind stets unter sieben Minuten und somit knapp unter sechs Minuten pro Kilometer - dieser Trott ist herrlich!
Gegen 13 Uhr rollt dann auch der persönliche Fanclub mit den Rennrädern aus Chemnitz ein - Ute, Siggi und Tilo sind gekommen, um dem ungewöhnlichen Treiben ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Für sie ist es regelrecht wie ein Zirkusbesuch und nach dem Konsum der für sie bereitgestellten Biere werden sie auch etwas redseliger: stellenweise Unverständnis aber auch (ernstgemeinten?) Respekt höre ich aus ihren kurzen Gesprächen mit mir heraus. Im Großen und Ganzen überwiegt jedoch ein Lächeln in ihren Gesichtern, wie man denn nur so blöd sein kann, sich in einem so derart desolaten Zustand dieser Herausforderung zu stellen.
Von der Manege aus, kann ich meinen kritischen Beobachtern am Wegesrand wenigstens ein erstes (unbedeutendes) Zwischenergebnis vermelden. Die Marathondistanz ist für mich nach 4:14 Stunden absolviert - voll im Plan, da ich bisher auch noch keine "Atmung" dafür benötigt habe. Die Kondition ist jedoch nur ein Teil des Ganzen. Die Muskulatur hat zu diesem Zeitpunkt schon ganz schön gelitten und der linke Knöchel schmerzt (seit einem "Vertreter" in Runde 3 am abgesenkten Gullydeckel in der Abfahrt zum Stadion) permanent. Auch der Kopf ist nicht mehr so euphorisch eingestellt, wie er es sein sollte. Das Negative überwiegt nun schon nach einem knappen Fünftel der Zeit - das ist definitiv zu früh! Normalerweise dient die erste Hälfte zum "Einlaufen" und danach beginnt der interne Kampf mit den sich immer stärker zur Wehr setzenden Elementen. Nun geht es mit dem Nach-hinten-Verschieben der Zwischenziele eben schon ein paar Stunden eher los. Mein Elan nimmt rapide ab und so platzt eine Seifenblase nach der anderen: 50 Kilometer nach 5:20 Stunden und die Rennsteiglaufdistanz nach 9:02 Stunden. Die anvisierten Unter-11-Stunden für den Hunderter sind in weite Ferne gerückt. Zum Glück befinden sich Tilo und Siggi zu diesem Zeitpunkt schon wieder auf ihren Drahteseln Richtung Chemnitz und bekommen diesen extremen Leistungsverfall nicht mehr mit. Ihre Verachtung hätte ich sicher und sie würden (bestenfalls) vor mir ausspucken, wenn es ein Aufwiegen ihrer Radtour mit meinem Wettkampf unter sportlichen Aspekten gäbe - schlicht gesagt: eine Unverschämtheit, für die sie zwar keinen Eintritt bezahlt, aber eben eine mehrstündige Radpartie auf sich genommen haben.
Ute guckt sich dieses Dilemma weiterhin an. Von ihr kommt auch der Tip, sich die verhärtete Muskulatur im Sozialtrakt des Stadions wieder weichkneten zu lassen. Ein guter und wirklich effektiver Vorschlag! Die knapp 15 Wohlfühl-Minuten auf der Liege vergehen dabei wie im Flug und die anschließende Bewegungsform hat wieder annähernd etwas mit Laufen zu tun. Nicht ganz so harmonisch vergeht dagegen die nächste Zwangspause von fast einer Stunde gegen 20:30 Uhr. Da mittlerweile auch ein Zelt an meinem Rastplatz steht, nutze ich dieses und versuche, den Schlafmangel der letzten Tage mit einem kleinen Nickerchen zu beheben. Das war so nicht vorgesehen und genau deshalb funktioniert das "Ausruhen" auch nicht! Ich friere ohne Unterlaß und kann mir daher diese Pause auch schenken. Der Wiedereinstieg ins Rundendrehen erfolgt mit langer Bekleidung, von der die Jacke und die lange Hose in den folgenden Runden schon wieder ihren Weg zurück in den Wäschekorb finden.
Mit kurzer Hose und langem Unterhemd gehe ich nun die Nacht an - allerdings nur bis kurz nach 22 Uhr, dem Bergfest. Der Riemen ist runter und nur 87,5 Kilometer stehen auf meiner Haben-Seite. Es ist deprimierend, wie es heute stockt. Die nächste Pause drängelt sich förmlich auf und wird mit fast vier Stunden Länge schon so eine Art Urlaubscharakter besitzen. Irgendwie hasse ich mich. Aufgrund der "Kälte" gelingt es mir nicht, zu schlafen. Trotzdem siegt meine Faulheit und ich nehme das Frieren lieber in Kauf, als ein Quälen auf der Strecke. Kurz nach 2 Uhr schäle ich mich dann aber doch aus der Behausung und nehme wieder am Wettkampf teil. Die Strecke ist verhältnismäßig leer, obwohl optimale Bedingungen herrschen: abnehmender Vollmond sorgt zusätzlich zum künstlichen Licht für genug Sicht, es ist trocken und mit 7°C recht angenehm zu laufen. Nun muß ich schnellstmöglich das nächste Zwischenziel, den Hunderter, abhaken. Und dieses Ziel läßt sich wiederum verdammt viel Zeit und so ist nach sage und schreibe 17:33 Stunden die 100-Kilometer-Marke überschritten - was für ein Kraftakt!
Nun bleibt noch der kurze Vormittag, um zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Wenigstens 120, vielleicht 130 oder gar 140 Kilometer sollen es nun schon noch werden. Es ist ein ständiges Auf und Ab - Laufen, Wandern und Pausen wechseln sich nun unregelmäßig miteinander ab. Die 100. Runde ist 7:10 Uhr absolviert und meine Erwartung steigt - die 140 sind machbar, zumal auch läuferisch manchmal ein kleiner Hoffnungsschimmer dieses Ziel untermauert. So wird die 108. Runde mit 6:34 Minuten als schnellste Runde meines Laufes registriert und noch knapp anderthalb Stunden bleiben für die fehlenden rund zehn Kilometer.
Am Ende geht ein Hunderter und ein Marathon mit Gesamtplatz 17 für mich in die Liste ein. Sicherlich kein Ruhmesblatt - für mein innovatives 24-Stundenlauf-"Training" unterschreibe ich es trotzdem! Es hätte schlimmer kommen können, ja sogar müssen! Auch wenn ich jetzt nicht den gesamten Tag (sondern nur rund 19 Stunden) durchgelaufen bin, ist das Gefühl (trotz des minimalistischen Ergebnisses) besser als bei den beiden vorangegangenen Abbrüchen. So muß ich mir das nun mal schönreden, egal ob ich dazu eine Berechtigung habe oder nicht!
Ein wirklich rundum gelungener Jubiläumslauf in Reichenbach (meine sportliche Leistung mal ausgeklammert): Organisation und Verpflegung hervorragend, Rahmenprogramm (Sprecher, Musik, Schalmeien, ...) sehr gut, der Rundkurs natürlich nicht einfach, dafür aber stets freundliche Helfer und ein Wettergott, der dies alles zu würdigen wußte.
Ergebnisse (ohne personenbezogene Daten nach DSGVO):
Meine "zehn" Vierundzwanziger im Überblick:
Datum | Wettbewerb | Rundenlänge | Ergebnis |
14./15.07.2012 | 24. Reichenbacher 24-Stundenlauf | 1.197,74 m | 181,622 km |
29./30.06.2013 | 25. Reichenbacher 24-Stundenlauf | 1.197,74 m | 165,441 km |
28./29.06.2014 | 26. Reichenbacher 24-Stundenlauf | 1.199,19 m | 182,5594 km |
15.-17.07.2015 | 8. Golser Ultralauftage (48-Stundenlauf) | 1.000,00 m | (185,100 km) |
(123,900 km) | |||
27./28.06.2015 | 27. Reichenbacher 24-Stundenlauf (DM) | 1.199,19 m | 165,5503 km |
30.04./01.05.16 | 28. 12+24-Stunden-Lauf von Basel (DM) | 1.101,43 m | 201,308 km |
18./19.09.2016 | 28. Reichenbacher 24-Stundenlauf | 1.199,19 m | 70,9351 km |
08./09.09.2017 | 1. 24H von Gotha (DM) | 2.048,00 m | 106,496 km |
30.06./01.07.18 | 30. Reichenbacher 24-Stundenlauf | 1.199,19 m | 142,3924 km |
Auf Bilder und die Nennung der Namen dritter Personen habe ich im vorliegenden Bericht zur Wahrung des neuen Datenschutzes verzichtet! Die namentlich genannten und standbildlich erfaßten Personen haben ihr Recht an Name und Bild für diesen Beitrag freigegeben. Zum "Auffüllen" des Textes habe ich aufgrund der wenigen, landschaftlich relevanten Motive auf eine Mehrfachverwendung meines Konterfeis zurückgegriffen. Dies geschah nicht aus der besseren Verdeutlichung der Monotonie des Laufes heraus, auch nicht aus gern gelebter Egozentrik oder modernem Selfiewahn!? Wie auch immer, es zeigt nur recht eindrucksvoll, wie unkompliziert doch diese neue Datenschutz-Grundverordnung sein kann!