08.07.2017 | 7:05 Uhr | 105 km | 7.000 Hm+ | 7.050 Hm- |
Die Urlaubsplanung für diesen Sommer dirigierte uns mal wieder ins Aostatal. Dort waren wir letztmalig 2012 zum TOR DES GÉANTS für zwei Wochen zu Gast. Weil aber unsere späteren Aktivitäten beim ULTRA-TRAIL DU MONT-BLANC (2013), dem SUR LES TRACES DES DUCS DE SAVOIE (2015) oder dem LA PETITE TROTTE À LÉON (2014 und 2016) das Gebiet südlich des Mont Blanc stets mit einschlossen und man gern etwas mehr Zeit in diese Gegend investiert hätte, mußte mal wieder ein intensiverer Kurzbesuch im Valle d'Aosta herhalten. Rein zufällig bot sich zeitlich zum Berg- und Wanderurlaub mit dem GRANTRAIL COURMAYEUR eine sportliche Betätigung im überschaubaren Umfang an.
Eine mitten in Courmayeur gelegene und bezahlbare Ferienwohnung wurde schleunigst in Beschlag genommen und die Anmeldemodalitäten für die 90er Schlaufe beim Grantrail erledigt. Als ich dann im Frühjahr das erforderliche ärztliche Attest nachreichen will, stelle ich verwundert fest, daß zwei der drei angebotenen Strecken noch geringfügig um 15 Kilometer verlängert wurden. So ist die 60er Runde nun 75 Kilometer lang und der 90er mißt 105 Kilometer. Nur der Dreißiger bleibt unangetastet - er bildet für die lange Strecke den Schlußakkord, für den zuerst die 75-Kilometer-Distanz absolviert werden muß.
Die Woche vor dem Wettkampf wird mit ausgedehnten Wanderungen rund um Courmayeur und der Wiederholung der 2016er PTL-Nachtpassage am Klettersteig des Mont Chétif ausgefüllt. Am Freitag gibt es die Startnummern gegen die Vorlage des Personalausweises und für 20 Euro Pfand den GPS-Tracker, der die gelaufene Wettkampfstrecke für die Organisatoren kontrollierbar macht. Auf eine Pastaparty am Vorabend und großartige Beilagen im Starterbeutel verzichtet man - muß ja auch nicht immer sein! Dann könnte es ja auch losgehen! Allerdings ist der genaue Startpunkt für uns nicht ganz klar. Wird er anfangs noch am Sportcenter in Dolonne ausgewiesen, ist er kurz vor knapp plötzlich im Internet mit dem Piazza Brocherel angegeben. Von unserer Unterkunft an der Via Roma ist letzterer Punkt wesentlich schneller zu erreichen, als das rund einen Kilometer entfernte Forum Sportcenter. Also mache ich mich des Morgens gegen 6 Uhr auf, um das Geheimnis zu lüften. Und siehe da, am Brocherel beginnt man tatsächlich, Absperrgitter und einen Startbogen aufzubauen. Wir haben daher keinen Streß und können die verbleibende Zeit bis zum Start beruhigt angehen. Mit Bruno, Martin und Madeleine machen wir uns halb sieben zum Ort des Geschehens auf. Sie werden uns (hoffentlich) beim Rundendurchlauf nach 75 Kilometern Gesellschaft leisten, bevor es auf die Schlußetappe geht.
Auf dem Piazza Brocherel tummeln sich rund 300 Läufer, die den für 7 Uhr angesetzten Start für die 75- und 105-Kilometer-Distanz erwarten. Doch dieser verzögert sich, weil alle anwesenden Teilnehmer noch elektronisch registriert werden müssen, bevor sie in den abgezäunten Startgarten dürfen. So wird es eine fast fünfminütige Verspätung geben - die Wettkampfuhr läuft allerdings schon seit Punkt 7 Uhr. So wird es später in den offiziellen Zwischen- und Endergebnissen stehen. Bei den 170 Läufern der Langdistanz stellen die Italiener mit 117 Teilnehmern das Gros des Feldes, gefolgt von den Franzosen (21) und den Briten (7). Nur drei Deutsche stellen sich dabei dieser Herausforderung.
Das Herunterzählen beginnt. Der Zahlenreihe "Dieci, nove, otto, sette, sei, cinque, quattro, tre, due, uno" folgt ein langgezogenes "Via!" und die Masse wälzt sich durch den Startbogen und die viel zu enge Via Roma zum Piazza A. Henry, dem Startpunkt des TDG. Auf dessen Weg, auf Via Roma und Via Circonvallazione, wird der Ortskern Courmayeurs Richtung Busbahnhof gequert und weiter über den Dora Baltea nach Dolonne (1.219 m) verfolgt. Erst am Ende des Ortes, am Abzweig zum Col d'Arp, wird die TDG-Strecke verlassen und auf den anfangs breiteren Fahrweg entlang des Flußes und der Autobahn gewechselt. Er führt später am Hang durch den Wald zur Fünf-Häuser-Siedlung Champex (1.036 m) und weiter nach Pré-Saint-Didier (1.004 m). Nachdem dort die Therme passiert wurde, geht es im Wald auf teils engen Pfaden wieder hoch. Ein Brunnen zwischendurch ermöglicht eine kurze Erfrischung, denn die Wettervorhersage hat auch heute wieder eine 30 auf dem Thermometer vorgesehen und schon jetzt am Morgen ist diese Entwicklung zu spüren.
Über Combe (1.387 m) und Molliex (1.449 m) erreichen wir 9:10 Uhr den ersten Verpflegungspunkt, der ungefähr 200 Meter hinter den Häusern von Petosan (1.772 m) an der Verbindungsstraße von La Thuile nach Morgex liegt. Mein zweites Frühstück ist nun mit einem Mischmasch aus Cola, Wasser, Apfelsaft, Melonenstücken und Keksen zwar etwas gewöhnungsbedürftig für den Magen, aber gut für die Psyche. Schließlich brennt die Sonne schon ordentlich auf den Pelz und bis zum nächsten VP sind es rund zehn Kilometer. Da will man doch auch ordentlich gestärkt die nächste Etappe in Angriff nehmen können. Um 11 Uhr ist hier, in Petosan an den Trinceramendi del Principe Tomasso, die erste Zeitschranke für das Teilnehmerfeld vorgesehen - gegen 9:20 Uhr sind wir aber schon wieder auf dem Weg. Der Vorsprung auf das Zeitlimit ist damit recht beruhigend.
Die Strecke wird zunehmend anspruchsvoller, aber auch die Sicht auf die umliegenden Berge und das Städtchen La Thuile, wo uns der Weg noch hinführen wird, sind spektakulär. Kaiserwetter und Fernsicht - so machen die Mühen sichtlich Spaß! Über Plan Praz (2.057 m) und Bec de Aille (2.386 m) gelangen wir zum Alta Via 2, einem der zwei großen Höhenwege entlang des Aostatales. Doch bevor wir diesen erreichen, gibt es noch einen kleinen Verläufer von uns. Obwohl die Strecke erstklassig markiert ist, gelingt es uns vom Weg abzukommen. Beim Überholen eines italienischen Läufers nehmen wir im Felsengebilde den geraden Weg, statt nach links abzubiegen. Erst nach einiger Zeit bemerken wir den nun fehlenden Trampelpfad und kehren zu dritt um. Fünf (mühsam erarbeitete) Plätze im Feld und ein Lächeln im Gesicht kostet uns dieser Fauxpas.
Wenig später folgt ein, rund einen Kilometer langer Abschnitt auf dem Alta Via 2 zum Rifugio Deffeyes (2.500 m), auf dem uns die schnelleren Läufer schon wieder entgegenkommen. Nach (offiziell) 4:18:49 Stunden erreichen wir die Hütte, die auch beim TDG Verpflegungsstation ist. Das Angebot umfaßt alles Notwendige zum Nachfüllen, nur die ausgelegten Schokoladenstücke haben sich in der Mittagssonne zu einem braunen Brei vereinigt und sind daher nur schlecht an den Mann zu bekommen. Nach rund zehn Minuten sind wir dann schon wieder auf dem Rückweg - nun geht es auf den nächsten rund 18 Kilometern (bis zum Col d'Arp) entgegen der Streckenführung des TOR DES GÉANTS. Es geht bergab und wir können etwas Tempo machen - natürlich nur in unserem Rahmen, denn der Weg ist ein Steig und ständig ist mit Gegenverkehr, in Form von Bergwanderern, zu rechnen.
Vorbei an der Alpage du Glacier (2.158 m) und dem dazugehörigen Lago Glacier steigen wir ins Tal des Torrente Ruitor ab. Drei größere Wasserfälle säumen nun den unmittelbaren Weg hinab nach La Joux (1.595 m). Abwechselnd auf Asphalt und Waldboden laufend, gelangen wir nach Promise (1.516 m), darauf nach Villaret (1.484 m) und zum nächsten Verpflegungspunkt ins "Cinema Arly" (welches aber eher an eine Turnhalle erinnert). La Thuile (1.447 m) - es ist kurz vor 13 Uhr und wir haben 30 Kilometer im Sack. Zu Cola und Melone gönne ich mir Käse und Schinken und der Aufenthalt im Kino dauert wiederum nur zehn Minuten. Etwas verwinkelt schickt man uns nun durch den Ort, um in Faubourg den Anstieg zum Vallone di Youla zu beginnen. Anfangs schlängelt sich dieser noch durchs Gelände, später gelangen wir auf den asphaltierten Fahrweg, der uns zu dieser Hochebene führt. Die Farbmarkierungen vom TDG und vom 4K sind dort noch gut zu erkennen. Es ist verdammt warm und auf halber Höhe kommt uns ein Läufer entgegen - es wird nicht der einzige sein, der hier die Segel streicht! Nach 50 Minuten gelangen wir zu einer unverhofften Wasserstelle an der Arp Dessous (1.781 m), welche wir zum Auffüllen der Trinkflaschen und zum Erfrischen nutzen. Danach geht es weiter fleißig die Serpentinen hoch zur Hütte von Mayen di Youla (2.008 m). Hier gibt es die nächste Stärkung und mit 18 Uhr das nächste Zeitlimit. Wir sind aber schon 14:33 Uhr an diesem Punkt und somit gut im persönlichen Zeitplan, der eine Zielzeit von unter 24 Stunden anstrebt.
Der Weg durchs Tal geht jetzt sehr direkt. Anfangs werden sämtliche Kehren durch die Markierung geglättet und somit auch, auf die Länge des Vallone di Youla gesehen, schnell an Höhe gewonnen. Aus dem Bergbach Torrente di Youla grüßen uns zwei Italiener und wünschen uns noch viel Glück. Die haben's gut, doch der Himmel hat mittlerweile ein Einsehen mit uns und so ist die größte Sonneneinstrahlung durch Wolken behindert. Den Col d'Arp (2.570 m) erreichen wir 15:30 Uhr und bis zum Colle di Youla (2.661 m) ist es nur noch ein Katzensprung - eine Viertelstunde um genau zu sein. Dort benötigt Ute, wie so manch anderer Läufer in unserem Leistungsniveau, eine kurze Verschnauf- und Bergsichtpause.
Vielleicht ist es nun mein Redeschwall, der im Übermaß über die umliegenden Berge und Wege informiert, vielleicht auch ihre bisherige Anstrengung? Ute hat plötzlich Nasenbluten. Abhilfe schafft da ein Schneefeld auf dem weiteren Weg. Da kommt dann genug Schnee ins Genick und nach fünf Minuten Schneekur ist die Nase ruhig gestellt. Und damit Ute auch noch vollends abgelenkt ist, erzähle ich ihr, wie oft wir z.B. diesen Weg schon gegangen sind - mal hin und zurück zum Mont Favre oder im Vorjahr beim PTL (da allerdings bei Nacht) und sie tut so, als wäre sie zum ersten Male hier und dies alles Neuland für sie. Der markante Weg, teils etwas ausgesetzt, zum Colle di Charmonts (2.781 m): er ist ihr völlig neu! Erst am Colle di Berrio Blanc (2.840 m) erinnert sie sich an unseren Mont-Favre-Besuch von 2012 und als sie ein paar Meter weiter gleich mehrere Edelweiß am Wegrand entdeckt, ist sie auch wieder etwas gesprächsbereiter.
Nach 48 Kilometern und 10 Stunden Laufzeit sind die Häuserruinen auf dem Mont Fortin (2.758 m) von uns erreicht. Dort wird wieder reichlich Verpflegung angeboten, u.a. Thunfisch aus der Büchse. Diese Abwechslung im Speiseplan gönnen wir uns dann auch, schließlich hat Ute schon ganz schön mit dem Magen zu kämpfen. Die Pause fällt deshalb auch etwas länger aus, auch wenn ich damit unser Zwischenziel, Dolonne gegen 22 Uhr zu erreichen, schon fast abschreiben muß. Wir werden definitiv nicht mehr schneller!
Hinab zu den Laghi di Mont Fortin (2.586 m) und dem Lago di Mont Percé (2.552 m) führt ein gut laufbarer Bergpfad, der sogar noch ein größeres Schneefeld kreuzt. Den Col Chavannes (2.598 m) erreichen wir 17:50 Uhr. Beim TDS und beim PTL haben wir hier schon Station gemacht. Ute erinnert sich dunkel daran und wird erst bei Details einsichtig. Auf dem Alta Via 2 wird entgegengesetzt dem TDS das Vallone delle Lex Blanche angesteuert, aber nur bis auf halbe Höhe, denn dort biegt ein Trampelpfad Richtung französische Grenze ab. Kurz darauf hat es auch mich erwischt und die Nase tropft rot vor sich hin. Nach ein, zwei Spülungen am Bergbach und einem Zellstoffpfropfen im Gesicht kann es aber unvermindert weitergehen. Nur ein vorbeilaufender Einheimischer erschrickt sich an diesem Anblick und bietet mir die obligatorische Hilfe an, die aber nicht notwendig ist. Der Pfad verläuft sich nun zunehmend in Geröllfeldern und die Markierung der Strecke ist in diesem Teil nicht so gut gelöst, wie man es bisher kannte. So kommt es zu leichten Abweichungen unter den Teilnehmern auf diesem Abschnitt, da jeder die Wegfindung anders definiert. Den Colle de la Seigne (2.510 m) erreichen trotzdem alle! Hier ist die Grenze zu Frankreich und ich laufe zum Fotografieren den Bogen um den Steinhaufen am Paß noch etwas großzügiger, während sich Ute schon ins Vallone della Lex Blanche stürzt. Sie ist schnell und ich habe bis zum Observatorium Tsa de la Lex Blanche (2.280 m) zu tun, um zu ihr aufzuschließen. Da uns jedoch der Weitwanderweg Tour du Mont-Blanc (TMB) zu schnell zum Lago Combal bringen würde, ist noch der sehenswerte Umweg um die Les Pyramides Calcaires für uns vorgesehen. Eben leicht vernichtete Höhenmeter werden nun mühsam wieder angehäuft. Erst wird ein sanfter Bergpfad dafür herhalten, später finden wir uns im groben Geröll wieder. Zwischendurch versucht sich Ute erfolglos an einer Magenentleerung über den Eingabeschacht - ihr Zustand will einfach nicht besser werden! Vom Col des Pyramides Calcaires (2.573 m) führt ein sehr schlecht zu laufender Steig hinab zur Berghütte Rifugio Elisabetta Soldini (2.187 m). Dort gibt es für uns das Abendbrot des Tages.
Es ist mittlerweile 20 Uhr (und damit fünf Stunden vor dem Zeitlimit), als wir die Hütte erreichen. Für Ute endet die Reise erstmal auf einer der im Freien aufgestellten Holzbänke in der Horizontalen. Ihr geht es dreckig und das sieht man ihr auch an. Ein Helfer deckt sie dabei mit seiner Jacke zu, natürlich nur, weil sie eine Frau ist! Bei einem Mann hätte er dies nicht gemacht, versichert er mir lächelnd. Während ich mir also die freie Zeit mit dem Verzehr von massig Käse und Schinken überbrücke, versucht Ute sich zu regenerieren. Dies gelingt logischerweise nicht hundertprozentig, aber kurzfristig stellt sich, nach einer gefühlten Ewigkeit, eine Besserung ein und so werden wir von einer Frau des Organisationsteams mit extra Glockengeläut und besten Wünschen ins Tal verabschiedet. Dort scheint gerade ein Regenguß über Courmayeur nieder zu gehen, denn unsere Laufrichtung ist direkt auf den Mont Chétif ausgerichtet, hinter dem sich die Wolkenlast entlädt.
Vom Lago Combal (1.957 m) im Val Veny führt die Markierung auf der Strecke des UTMB weiter. Es geht wieder hoch zu den Almen Arp Vieille Dessous (2.073 m) und Arp Vieille Dessus (2.303 m). Wir haben nicht mehr viel Elan zu bieten und haben uns auch mittlerweile "offiziell" von der angestrebten Zielzeit verabschiedet. Wir liegen trotzdem gut im Rahmen und gönnen uns daher hinter dem Arête du Mont-Favre (2.435 m) eine kurze Auszeit zum Wechsel auf die Zusatzbeleuchtung am Kopf. Es dämmert gerade und so mogle ich mich noch bis zum Lago Chécrouit (2.161 m) ohne Sehhilfe durch. Markante Punkte unterwegs werden von mir für Ute natürlich kommentiert - sie soll ja auch das Gefühl bekommen, hier schon einmal gewesen zu sein. So markiert z.B. ein Holzpfahl am Wegesrand unseren Schlafplatz vom vorjährigen PTL. Damals krochen wir, in der fünften Wettkampfnacht völlig aufgezehrt von vorangegangenen 231 Kilometern mit 20.200 Höhenmetern im Anstieg, in unseren Biwakschlafsack, ohne auch nur eine Minute (richtig) geschlafen zu haben. Die einsetzende Kälte und der harte Untergrund trieben uns damals weiter, wir waren noch mehr gerädert, als vor unserer Pause, aber wir konnten so die Spitzenathleten des UTMB anfeuern, welche uns fortan entgegen kamen. Heute ist alles wesentlich entspannter - die Strecke geht größtenteils bergab und mit dem Rifugio Maison Vieille am Col Chécrouit (1.952 m) wird Ute's Lieblingsverpflegungsstation angelaufen. Zuvor muß ich aber noch "erschreckt" feststellen, daß verdammt viele Lampen am Massiv des Mont Chétif zu Gange sind. Habe ich das etwa beim Kartenstudium zur Wettkampfstrecke überlesen? Es sieht auf alle Fälle ganz danach aus.
Vor dem VP empfängt uns ein kleiner Junge, welcher unsere Startnummern (13 - tredici, 14 - quattordici) laut den Leuten an der Zeitmessung zuruft. Für 22:16 Uhr werden wir daraufhin als Eingang im Protokoll vermerkt. Ich trinke nur etwas Cola und fülle meine Flaschen wieder auf, danach folgt der Anruf im Tal bei unserem "Fanclub". Dabei muß ich unseren ambitionierten Zeitplan korrigieren und eine Ankunft für weit nach Mitternacht ankündigen. Ich erfahre aber auch, daß sich der Rundendurchlauf und die Zielankunft in Dolonne (und nicht in Courmayeur) abspielen - damit beseitigt dieses Telefonat dann auch die letzte bestehende Unklarheit zum Wettkampf. Derweil gelingt es Ute nicht, ihren Magen zu beruhigen. Ich würde ihr ja ein Bier, als Allheilmittel, in der Hütte kaufen, aber sie lehnt ab und so sind wir nach 15 Minuten wieder auf der Strecke.
Ein breiter Fahrweg bringt uns anfangs nach oben, um danach wieder steil hinab zu führen. Ein weiterer Anstieg folgt und wir stehen an den Häuser der Seilbahn Courba Dzeleuna (2.048 m). Danach verschwinden wir wieder im Gelände und gelangen so zum von uns schon oft frequentierten Wegweiser (2.124 m) unterhalb der Rinne, welche zum Chétif führt. Nun geht es für uns nur noch bergab. Viele Kehren bringen uns nach Praz Neyron (1.894 m), von wo aus wir wieder auf den TMB wechseln. Eine halbe Stunde hatten wir in der Woche bei unserem Chétif-Besuch für den Abschnitt ins Tal benötigt und wünschten uns dabei, diese Fitness auch im Wettkampf zu besitzen. Etwas länger dauert es diesmal aber schon, da in der Dunkelheit und mit den bisherigen Abnutzungserscheinungen kein durchgängiger Laufschritt möglich ist. Als wir auf die Wiese oberhalb Dolonnes (1.213 m) abbiegen, mache ich unten im spärlich beleuchteten Ort zwei Personen aus. Bruno und Martin! Wer sonst steht dort noch kurz nach Mitternacht und wartet? Ich gebe Signale mit der Stirnlampe und winke wie wild dazu. Doch keine Reaktion! Warum auch? Die zwei entpuppen sich später als Italiener, die aber wenigstens (sehr) freundlich grüßen, als wir an ihnen vorbeimarschieren. Bruno, Martin und Madeleine stehen dann oberhalb des Sportcenters, wo wir 0:15 Uhr (Zeitlimit 5:00 Uhr) eintreffen.
Für Ute organisiere ich ein Bier (was auf meiner Startnummer mit einem "B" vermerkt wird) und sie holt sich ein warmes Gericht (Startnummernkennzeichnung mit "P") am Stand ab. Diese Zuteilung ist man beim (mir bekannten) hohen Versorgungsstandard von den VDA Trailers ja gar nicht gewohnt. Sicherlich machte sich diese Maßnahme erforderlich, da zu viel Schindluder mit der Freizügigkeit getrieben wurde und ganze Familienclans mit durchgefüttert wurden. Ich habe jedenfalls des Nachts kein zu großes Hungergefühl und beschränke mich daher auf etwas zu trinken und die Tagesauswertung mit meinen Jungs. Ein Fehler, wie sich später herausstellen wird!
Natürlich fällt ein Weitermachen jetzt nicht leicht. Man sieht, wie die 75er genüßlich ihren Feierabend genießen und selbst sprüht man ja nun auch nicht mehr voller Tatendrang. Sicherlich hätten es auch 75 Kilometer getan, aber das sollte jetzt nicht die Diskussionsgrundlage bilden. Fakt ist, es muß noch mal etwas Bewegung ins Gebein! Gegen 0:40 Uhr verabschieden wir uns von den drei Müllers und starten in die anfangs kalte Nacht. Entlang des Dora Baltea auf der Straße nach La Villette (1.198 m) und weiter Richtung Entrelevie, wo wir den Fluß nach La Saxe (1.262 m) queren. Entgegen der PTL-Strecke laufend gelangen wir nach Villair (1.320 m) und sind auf dem weiteren Weg hoch ins Val Sapin und weiter zum Rifugio Giorgio Bertone (1.996 m) auf dem TMB unterwegs.
Schnell sind wir nun wahrlich nicht mehr! Ute erzwingt Pausen, weil es ihrem Magen immer noch nicht gelungen ist, sich auf die Situation einzustellen und ich habe stellenweise keine Kraft mehr. Von Ute bekomme ich deshalb zwei getrocknete Aprikosen als Soforthilfe. Der Weg ist lang, steil und verwinkelt ... und er ist uns besser bekannt, als wir uns es jetzt wünschen würden. Zwei Stunden nach unserem Aufbruch in Dolonne, erreichen wir 2:40 Uhr das Zelt oberhalb der Berghütte. Vier ältere Herren verabschieden gerade einen Teilnehmer auf den weiteren Weg. Wir nehmen an der Biertischgarnitur Platz und bekommen die "Speisekarte" vorgetragen. Ute nimmt daraufhin kaltes Wasser mit Sprudel, und ich schütte mich erstmal mit Cola zu und nehme noch etwas Melone vom Tisch. Dazu bekomme ich vom aufmerksamen Herren Würfelzucker angeboten, von denen ich mir fünf Stück einflöße. Bei Ute nimmt die Nahrungs- und Getränkeaufnahme leider (oder besser gesagt: zum Glück) die andere Richtung. Etwas abseits vom Geschehen reihert sie sich die Lunge aus dem Hals und zeigt mittels nach oben gerichteten Daumen ihre Erleichterung an. Die Männer nicken zustimmend und mit süßem schwarzem Tee wird kurz darauf Ute's Magen wieder beruhigt.
Kurz nach 3 Uhr machen wir uns auf den Weg Richtung Val Verret. Der Weg ist nur ganz leicht profiliert und wir kommen auch richtig schnell voran. Im Tal liegt die beleuchtete Einfahrt zum Mont-Blanc-Tunnel und auf der gegenüberliegenden Talseite gibt ein kleines Licht im Fels am Firmament die Rifugio Torino an der Pointe Helbronner auf knapp 3.400 Metern preis. Weiter hinten im Talkessel liegt noch einsamer die Rifugio Boccalatte Piolti, der Ausgangspunkt vieler Grandes-Jorasses-Besteigungen. Bei Tageslicht konnte ich die Berghütte noch nie in den gewaltigen Fels- und Gletschermassiv ausmachen, nun verrät auch hier das Hüttenlicht ihren Standort auf rund 2.800 Metern. Ein paar Kühe säumen unseren Weg und Ute registriert sogar eine Schlange, die im Scheinwerferkegel ihrer Lampe den Weg kreuzt. Sonst sind wir allein auf unserem Weg. Doch ab der Überquerung des Torrente d'Arminaz an der gleichnamigen Alm (1.986 m) lassen die Kräfte wieder nach. Von hinten nähert sich uns eine Stirnlampe, welche aber den Kontakt zu uns am Rifugio Walter Bonatti (2.026 m) wieder verliert.
An der Malatrà Dessus (2.226 m) ist es 5:13 Uhr, als wir dort eintreffen. Zwei Männer kümmern sich hier um das Wohl der Läufer - einer spricht französisch, der andere italienisch. So gut es geht unterhalte ich mich mit ihnen über die umliegenden Berge, die die Nacht langsam wieder frei gibt. Ute hat sich in der Zwischenzeit in einen beheizten Container zum Schlafen gelegt. Zum Glück haben wir am Anfang so viel Zeit herausgelaufen und haben nun genug Puffer für solche Eventualitäten. Damit es mir in dieser längeren Pause nicht zu kalt wird, ziehe ich mir meine Regenjacke an. Diese hätte ich auch gleich anbehalten können, denn kurz nach unserem Aufbrechen beginnt es zu regnen - erst ganz normal und dann immer stärker. Dazu kommt ein Sturm, bei dem sich Ute im oberen Teil des Vallone di Malatra hinter mir "verstecken" muß, um nicht fortgeweht zu werden. Windschattenlaufen zum Passo entre deux Sauts (2.524 m)! Beim folgenden Abstieg ins Comba d'Arminaz, oberhalb Tsa di Sécheron (2.255 m), legt sich das Ganze wieder und die völlig durchnäßten Hosen können im Wind mit ihrer Trocknung beginnen. Doch bis ins Ziel werden wir noch mehrfach von Regenschauern überrascht und richtig trocken wird hier nichts mehr. Am Col Sapin (2.435 m) steht einsam ein Container, in dem zwei Männer als Streckenposten unsere Nummern registrieren. Noch 15 Minuten wären es bis zur letzten Verpflegung, geben sie uns noch mit auf den Weg. Vielleicht meinten sie auch 50 Minuten? Das würde zeitlich besser zu uns passen!
Den Abstieg vom Col Sapin habe ich von unseren Wanderungen 2012 recht steil und steinig in Erinnerung. Daher haben wir schon etwas Schiß, dort jetzt 'runter zu müssen, denn wir haben nur unsere Schönwetterschuhe an und schon die vorangegangene Talfahrt war auf dem Untergrund grenzwertig. Es kommt aber bei weitem nicht so schlimm, wie vermutet, aber auch so ist es noch anspruchsvoll genug. Der Pfad schlängelt sich später am Hang entlang und wird urplötzlich von einem Schild unterbrochen: "Salita / 50 mt / Curru". Also 'runter vom Weg und einen Stich hoch, vielleicht 50 Höhenmeter? Oben auf dem Plateau befindet sich an einem Steinbau, unter einem Vorzelt die Verpflegungsstation Curru (1.964 m). Der Hunger hält sich kurz nach 8 Uhr noch in Grenzen, nur der Appetit läßt mich jedoch beim guten Schinken gleich zweimal zugreifen. Ein, zwei Worte des Dankes an die zwei Helfer und wir sind wieder im Regen unterwegs. Über den Colle di Praz Condu (2.005 m) laufen wir nun immer parallel zur Talsohle dem Ziel entgegen. An der Alm La Suche (1.810 m) ist heute nicht nur eine Cola-Flasche (wie zu unserer Streckenbesichtigungstour in der Woche) im vorgelagerten Wassertrog, sondern auch noch zwei Bierbüchsen - eine davon allerdings schon leer. Sicherlich könnte man sich hier bedienen, was wir uns aber nicht trauen. Und da auch niemand zum Nachfragen an den Häusern zu sehen ist, geht es ohne kleinen Frühschoppen weiter talwärts. Bis Ermitage (1.467 m) bringt uns noch ein Wanderweg, der dort allerdings in ein monotones Straßengelatsche wechselt. Schon seit der Soldini, bei Kilometer 61, habe ich mit Blasen in den Schuhen zu kämpfen - gerade bergab. Und nun noch Asphalt! Das schmerzt um einiges mehr, aber wir hören ja schon den Sprecher von Dolonne zu uns herüberschallen und so weit ist es nun auch nicht mehr.
Wir trudeln langsam in Courmayeur (1.224 m) ein. Nun nur noch verletzungsfrei durch die schon relativ vollen Straßen hinunter zum Fluß gelangen. Dann die paar Meter hoch zum Sportcenter mit Umrundung des Parkplatzes und die Zielgerade hat uns. Wir lassen uns Zeit, zelebrieren also keinen Zielsprint, und spazieren ganz entspannt zum Zielbogen. Mit "Herfurt Ute e Delling Thomas, Germania. Welcome!" werden wir vom Sprecher begrüßt und kurz darauf über die Eindrücke vom Lauf ausgequetscht. Da sich mein Redebedarf in Grenzen hält, verweise ich ihn auf Ute, welche seine Fragen gern (in englisch) beantwortet. Wir bekommen jeder ein Finisher-Stirnband und unsere 20 Euro Pfand für die GPS-Tracker. Zudem haben wir ja noch ein Bier und eine Pasta offen, welche wir uns anschließend noch abholen. Wobei die Pasta nicht mehr vorrätig ist (war für den Durchlauf nach 75 Kilometern gedacht!) und durch einen Teller voll mit kaltem Reissalat ersetzt wird. Das Zielbier wird zudem ergänzt durch ein großes Bier aus dem Rucksack unseres Betreuerstabes. Während Ute und Madeleine danach fast fluchtartig das Zelt verlassen, bleibe ich mit meinen Jungs noch eine Weile sitzen - ich war ja fast 27 Stunden in Eile, da kann man den restlichen Sonntagvormittag dann ruhig etwas entspannter angehen.
Ergebnis 105 km: 85 von 170 im Ziel
Männer: 73 im Ziel | ||||
1. | Macchi, Andrea | ITA | 1. S2 | 14:40:14 h |
2. | Cavallo, Giuliano | ITA | 1. V1 | 15:41:56 h |
3. | Saita, Gianfranco | ITA | 2. V1 | 16:50:40 h |
4. | Bolis, Matteo | ITA | 2. S2 | 17:01:59 h |
5. | Pillonel, Etienne | SUI | 3. V1 | 17:03:06 h |
6. | Colombo, Stefano | ITA | 4. V1 | 17:16:44 h |
60. | Delling, Thomas | GER | 24. V1 | 26:56:39 h |
Frauen: 12 im Ziel | ||||
1. | Watson, Anna-Marie | GBR | 1. S2 | 20:16:40 h |
2. | Varjaskeri, Viola | HUN | 1. V1 | 22:03:31 h |
3. | Ghirardi, Milena | ITA | 1. V2 | 24:25:29 h |
4. | Brögger, Karen-Marie | DEN | 2. V1 | 24:38:35 h |
5. | Toffanin, Mara | ITA | 2. S2 | 25:36:57 h |
6. | Fossati, Maria Ilaria | ITA | 3. V1 | 26:11:00 h |
7. | Herfurt, Ute | GER | 2. V2 | 26:56:37 h |
Für den GRANTRAIL COURMAYEUR hatten wir uns erstmals ein Zeitziel bei einem "Alpentrail" gesetzt. Sonst galt es immer nur (vordergründig) den Lauf im vorgeschriebenen Zeitrahmen zu beenden. Da ich jedoch rund 80% der Streckenführung von den anfangs aufgeführten Laufveranstaltungen und von diversen Wanderungen aus dem Jahr 2012 kannte und somit den größten Teil der Herausforderung abschätzen konnte, war ich der Meinung, nach spätestens 24 Stunden den Haken an die Geschichte machen zu können. Dementsprechend kontrolliert wurde der Wettkampf von uns angegangen. Die bestehenden Zeitlimits mußten dabei als Grundlage für die Errechnung der Zielzeit herhalten. Bis Kilometer 61 hatten wir schon die (hochgerechnete) 25-Stunden-Marke erreicht, jedoch durch Ute's Nahrungsproblem auch schon viel Zeit liegen lassen, was sich im weiteren Verlauf auch nicht mehr besserte. Wenn also die Nahrungsaufnahme bei einer solchen körperlichen Anstrengung nicht gelingt, ist sehr schnell der Ofen aus und der Rest des Tages verkommt somit zur Trauerveranstaltung. Sicherlich wird man zum Ende eines solchen Laufes stets an seine physischen Grenzen geführt und eine Übernahme der anfänglichen Leistungsfähigkeit ist für die zeitliche Planung des Schlußabschnitts generell nicht sinnvoll. Mit einer halbwegs normalen körperlichen Verfassung wäre schon noch was möglich gewesen, so aber wurden viel zu lange Zwangspausen eingelegt und damit der anfangs bestehende Schwung verschleppt.
Ist nun mal keines der vielzitierten Wunschkonzerte, so ein Hunderter in den Alpen! Schön war der Trott durchs Gebirge trotzdem. Auch an der Veranstaltung gibt es nichts zu mäkeln - gute Organisation, ausreichende Verpflegung und stets freundliche Helfer. Es gibt keinen Grund im Zorn auf den GRANTRAIL COURMAYEUR zurückzublicken, auch wenn das persönliche Ziel weit verfehlt wurde. Zehn von zehn möglichen Punkten!
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