26./27.08.2018 Les Houches - Refuge Tête Rousse - Mont Blanc - Les Houches (Voie royale): ca. 3.950 Hm+ / ca. 3.950 Hm-
Seit Sommer 2011 ist das Mont-Blanc-Massiv für Ute und mich jährlich Betätigungsfeld für unsere sportlichen Urlaubsaktivitäten gewesen: ob nun als Umrundung (2011 und 2013 beim Ultra-Trail du Mont-Blanc resp. 2014 und 2016 beim La Petite Trotte à Léon) oder nur in dessen Schatten (2012 beim Tor des Géants, 2015 beim Sur les Traces des Ducs de Savoie und 2017 beim Grantrail Courmayeur). Allesamt 1.498 Kilometer unvergessliche Lauferlebnisse! Etwas fehlt jedoch noch: Wir standen nie ganz oben - oben, auf dem Dach der Alpen, auf dem Mont Blanc. Dies soll nun dieses Jahr nachgeholt werden.
Dessen Bergfahrt ist, trotz aller Gerüchte, nur ein "Hatschberg" ohne allzu große technische Schwierigkeiten zu sein, eine hochalpine Tour - egal, welche Aufstiegsvariante man wählt. Diese allgegenwärtige (abwertende) Meinung lockt allerdings nicht nur Alpinisten an dessen Hänge und die angebrachte Achtung vor diesem Berg verschwindet mehr und mehr im Gedränge der zunehmend schlecht trainierten und mangelhaft ausgerüsteten Aspiranten. Der Gipfelerfolg über den Normalweg (PD - peu difficile) wird jährlich von rund 30.000 Leuten angestrebt und nur knapp die Hälfte wird ihre Unternehmung auch erfolgreich gestalten. Es gibt in der Stoßzeit viele schwere, oft auch tödliche Unfälle, welche sich meist im Abstieg von der Goûter-Hütte ereignen - aber auch die extremen Wetterstürze auf dem Gipfelgrat, wo die Temperatur bei Windgeschwindigkeiten bis zu 150 km/h (die typische Schneefahne am Bossesgrat!) auch an Sommertagen schnell in den zweistelligen Minusbereich des Thermometers fallen kann. Diese Fakten werden meist ausgeblendet, wenn es um die Vorbereitung auf diese Bergtour geht.
Für den normalsterblichen Bergtourengeher gibt es von französischer Seite vier Möglichkeiten, den Berg zu bezwingen. Variante 1 ist natürlich der Normalweg (Voie royale), welcher der Bequemlichkeit folgend, meist noch mit der Nutzung der Zahnradbahn bis Nid d’Aigle (2.372 m) um über eintausend Höhenmeter abgekürzt wird und über die Tête Rousse und die Goûter-Hütte zum Bossesgrat führt. Weg 2 ist der frühere Normalweg über den Bossonsgletscher und die Mulets-Hütte hoch zum Petit Plateau (Gefahr von Eisschlag!) oder über den Nordgrat des Dôme du Goûter zur Abri Vallot. Möglichkeit 3 ist die luftige Gratwanderung von Les Contamines-Montjoie über die Dômes des Miage und die Aiguille du Bionnassay auf den Gipfelgrat. Und zu guter Letzt gibt es noch den Seilbahneinstieg bis zur Aiguille du Midi mit der anschließend kräftezehrenden Gletscherhatsch der „Les Trois Monts“ (Tacul, Maudit, Mont Blanc) zum Gipfel.
Spaßeshalber führte unsere Recherche für den besten Gipfelaufstieg nicht an Google Maps vorbei. Ob der dabei unterbreitete Vorschlag (des Normalweges) als ernsthafte Wegbeschreibung herhalten sollte, ist dabei mehr als fraglich. Von Chamonix über Les Houches und den Dôme du Goûter wird diese mit 25,6 Kilometern Wegstrecke, welche in 7:52 Stunden Gehzeit absolviert wird, angegeben. Ab dem Chemin de Bellevue oberhalb Les Houches’ folgen jedoch nur noch Angaben wie „Rechts abbiegen - 34 m“ oder „Scharf links - 68 m“. Für die letzten 5,7 Kilometer zum Gipfel gibt es dann gar keine Angaben mehr - sicherlich, weil der Gletscher- und Gratabschnitt keine anderen Möglichkeiten zuläßt.
Da aufgrund anhaltender Trockenheit und schwerer Gewitter im Juli der Steinschlag in der Schlüsselstelle des Normalweges (im Grand Couloir) zunahm, waren die Behörden gezwungen, diese Route für den Touristenverkehr zu schließen. Aus diesem Grund sehen wir uns als Alternative den Einstieg über die Mulets-Hütte etwas genauer an, auch wenn dieser für den Aufstieg in den Sommermonaten nicht empfohlen wird. Von Chamonix steigen wir über Pré du Rocher zur Mittelstation der Aiguille-du-Midi-Seilbahn, Plan d’Aiguille (2.317 m) auf, wo der Weg oberhalb der Moräne des Pélerinsgletschers Richtung Bossons führt. Da uns dieser Aufstieg jedoch zu lang erscheint, nehmen wir am Folgetag den Weg, wie wir ihn vom 2016er PTL schon kennen: von Chamonix über den Grépon-Parkplatz zum Eingang des Mont-Blanc-Tunnels und weiter durch den Wald zur ehemaligen Bergbahnstation Gare du Glaciers (2.414 m). Etwas oberhalb steigen wir in den Gletscher ein. Doch nur einige hundert Meter weiter sind wir mit unserem Latein am Ende. Ständige Steinschläge und durch Tauwasser abrutschendes Eis an den Séracs untermauern unsere These vom Umkehren, zumal bis zum Refuge des Grands Mulets auf uns noch ein regelrechtes Spaltenmeer wartet und keinerlei Steigspuren von der derzeitigen Nutzung dieser Aufstiegsvariante zeugen oder gar Bergsteiger in diesem Gebiet zu verzeichnen sind. Wir können allerdings oben am Bossesgrat zum späten Nachmittag noch Menschenbewegungen mit dem Fernglas ausmachen - der Normalweg muß demnach wieder offen sein! Wir kehren also wieder um und nehmen kurz darauf einen größeren Felssturz oberhalb unseres vormaligen Aufenthaltsortes war, der noch minutenlang durch eine riesige Staubwolke an der Felswand sichtbar ist. Glück gehabt und wohl noch rechtzeitig richtig entschieden!
Nun gilt unser Hauptaugenmerk der Normalroute. Daher geht es am dritten Tag, dem 22. August, mit dem Bus nach Les Houches und von dort mit der Seilbahn zum Tramway-du-Mont-Blanc-Haltepunkt Bellevue (1.801 m). In der Phase der Höhenanpassung genehmigen wir uns schon mal diese eine Bahnfahrt, welche zum Gipfeltag allerdings passe sein sollte. Nach drei Stunden zügigen Wanderschrittes über l’Are (1.775 m) und Nid d’Aigle (2.372 m) erreichen wir den Ausgangspunkt der späteren Gipfeletappe, die Tête-Rousse-Hütte (3.167 m). Dort gäbe es für Dienstag, den 28. August sogar noch zwei Schlafplätze - das ist fast wie ein Lottogewinn, bei der Hüttenauslastung auf dieser Strecke. Ute reserviert diese Plätze erstmal, welche wir bis Sonnabend nur noch per Anruf bestätigen müßten. Da jedoch für Dienstag/Mittwoch schon eine Verschlechterung des Wetters vorhergesagt wird, lassen wir uns noch bis zum Stichtag mit einer Buchung Zeit, da wir uns bis dahin einen genaueren Wetterbericht zu diesem Zeitraum erhoffen.
Alternativ kann man etwas abseits der Hütte auch im groben Gestein sein Zelt aufstellen und dort seine (halbe) Nacht vor dem Gipfelsturm verbringen. Ungefähr zwanzig Stoffbehausungen zeugen von dieser Möglichkeit. In der einen Stunde, welche wir an der Hütte verbringen, beobachten wir auch die große Rinne (Grand Couloir), in welcher ab und zu Steine zu Tal gehen und somit den Einstieg in den Felsrücken zur alten Goûter-Hütte erschweren. Allerdings sind generell viele Steinschläge rund um diesen Aufstieg zu verzeichnen - es ist also keine marktschreierische Panikmache, sondern ein ernstzunehmendes Problem.
Unser Abstieg ins Tal erfolgt über die Rognes (2.750 m), den Col du Mont Lachat (2.077 m) und den endlosen Serpentinenweg nach Les Houches, welches wir drei Stunden später erreichen. Ob wir uns diesen Weg allerdings auch nach dem Mont Blanc antun, steht noch in den Sternen, da er doch anfangs sehr kräftezehrend und letzten Endes sehr monoton ist.
Die für Freitag geplante Akklimatisierungstour zu den Dômes de Miage fällt dem morgendlichen Regenguß zum Opfer und so bleibt nur ein Trainingslauf von Chamonix zum Planpraz und weiter über den Brévent und die Bellachat-Hütte für die Verbesserung des Fitnesszustandes übrig.
Am Sonnabend gelingt es erst nach mehreren Versuchen, die Hüttenleute der Tête Rousse telefonisch zu erreichen. Für die nächsten drei Tage ist das Wetter stabil - kein Regen, kaum Wolken, daher fast ausschließlich Sonnenschein und der Wind auf über 4.000 Metern wird mit 40 km/h prognostiziert. Ab Mittwoch zieht dann ein Regengebiet über die Mont-Blanc-Region, so daß der Gipfelerfolg bis spätestens Dienstag in der Tasche sein muß. Zu unserem Glück gibt es für Sonntag noch zwei Übernachtungsabsagen und somit steht einer „Umbuchung“ von Dienstag auf Sonntag nichts im Wege.
Der Rest des Tages wird nun noch mit dem Erwerb von Ausrüstungsgegenständen über die Runden gebracht. Schließlich weisen im Aufstieg zur Tête Rousse mehrfach Schilder auf einen Beschluß der Gemeindeverwaltung Saint-Gervais-les-Bains vom 17. August 2017 hin, in welchem eine sogenannte Pflichtausrüstung für die Besteigung des Mont Blanc vorgegeben wird. Da wir nicht wissen, wie hoch die angedrohte Geldstrafe bei Zuwiderhandlung gegen dieses Pamphlet festgelegt ist, holen wir lieber den fehlenden Krempel (Sicherungszubehör etc.) noch. Dabei treffen wir auf Uwe und Chris, zwei ehemalige Weggefährten von früheren Wettkämpfen, zuletzt beim PTL 2016. Beide werden auch dieses Jahr wieder auf die legendäre 300-km-Runde um das Mont-Blanc-Massiv gehen, welche am Montag um 8 Uhr in Chamonix beginnt und deren Start wir nun (als Zuschauer) durch die kurzfristige Umplanung verpassen werden. Wir versichern den beiden jedoch, vom Gipfel aus ihren Start zu verfolgen, denn bis 8 Uhr sollten wir es schon bis hoch geschafft haben.
Der Sonntagmorgen präsentiert sich leicht wolkenverhangen und so nach und nach gibt die Wolkendecke den Neuschnee der Nacht an der Nordflanke der Aiguille du Goûter bis ca. 2.400 Meter herunter preis. Unsere Rucksäcke stehen reisefertig bereit und halten mit 25 und 15 Kilogramm Gewicht ordentlich Rückenlast bereit. Die Verordnung will es so, auch wenn wir zu zweit nie angeseilt gehen werden und somit sämtliche Karabiner, Schlaufen, Sitzgurte und das 30-Meter-Seil definitiv umsonst mitschleppen. Steigeisen, Pickel, Wärmekleidung, reichlich Futter und vier Liter zu Trinken sind ja nachvollziehbar, aber Zubehör für eine Zweier-Seilschaft kann man sich schenken, sollten doch nur zwei richtig gut aufeinander eingespielte Berggeher diese Art der Sicherung nutzen, da es sonst (so hart und makaber es klingen mag) nur unnütze Kollateralschäden geben würde. An heiklen Stellen ist somit jeder auf sich allein gestellt und reißt nicht noch den anderen mit, wenn es zu einer Notsituation kommt.
Um 9:24 Uhr nehmen wir den Bus nach Les Houches (1.012 m). Zehn vor Zehn beginnen wir an der Talstation der Bellevue-Seilbahn mit dem Aufstieg. Anfangs führt dieser auf der UTMB-Strecke Richtung Col de Voza, dann über Belleface (1.150 m) und Les Grands Bois (1.418 m) zum Plateau de Bellevue (1.801 m), welches wir noch vor 11:30 Uhr erreichen. Nun führt der Weg wieder hinab zur Weggablung Chalet de l’Are (1.775 m). Durch das Tal am Glacier de Bionnassay geht es nun gemächlich aufwärts zur Refuge du Nid d’Aigle (2.372 m). Anfangs versperren dabei noch Kühe den Weg, während sich die weiter oben am Wegesrand „abgestellten“ Steinböcke doch etwas scheuer präsentieren. Für eine zwanzigminütige Mittagspause (mit Baguette, Wurst und Trockenfrüchten) oberhalb des Zahnradbahn-Bahnhofes haben wir dann auch noch Zeit, da wir ja keinem Zeitdruck ausgesetzt sind.
Nach fünfeinhalb Stunden Aufstieg von Les Houches erreichen wir 15:20 Uhr die Refuge de Tête Rousse (3.167 m). Es ist mittlerweile nur leicht bewölkt und eine phantastische Sicht läßt die Strapazen der Anreise, besonders durch die schweren Rucksäcke verursacht, schnell vergessen. Ute macht nun die Übernachtung und das Abendessen klar und bringt noch zwei (kleine) Flaschen (Feierabend-)Bier mit - 120 Euro kostet der Spaß (und enthält dabei schon die Ermäßigung der DAV-Mitgliedschaft). Zwischen 17:40 und 19:10 Uhr gibt es schon mal eine anderthalb Stunde „Probeliegen“ im Matratzenlager. Es ist kalt und der Schlaf fällt daher auch nur recht kurz aus. Danach wird im zweiten Durchgang gegen 19:30 Uhr das Abendbrot gereicht. Wir teilen uns mit vier Ungarn das uns vorgesetzte Vier-Gänge-Menü (bestehend aus Käse, Linsensuppe, Polenta mit Wurst und einem Dessert), welches noch mit je einem Bier ’runtergespült wird. Ab 20:45 Uhr ist Nachtruhe angesagt, was in einer Berghütte ja meist nicht so geregelt möglich ist - und so kommt es, daß das Lager mehr einer Diskothek als einem Schlafraum ähnelt. Ein Kommen und Gehen, kombiniert mit allerlei Lichteffekten von verschiedenen Stirnlampen in alle möglichen Richtungen und jede Menge abzuhandelnder Gesprächsstoff beherrschen die Szenerie im „Alpamayo“ (so der Zimmername). Zudem ist es nun verdammt warm und an Schlaf definitiv nicht mehr zu denken.
Da wir sowieso gegen Mitternacht aufbrechen wollen, verschieben wir das Ende der mißlungenen Nachtruhe auf 23:30 Uhr. Bis wir im Vorraum unsere Sachen im Rucksack verstaut haben, ist der neue Tag auch schon angebrochen. Gegen 0:05 Uhr verlassen wir die Hütte und sind von der angenehmen Wärme der Nacht überrascht. Wir winden uns durch den Zeltplatz, auf dem nun auch große Aufbruchsstimmung herrscht. Vor uns sind nur die Stirnlampen zweier Österreicher auszumachen, welche dem Trubel im Schlafraum noch kurz vor uns entflohen waren. Bevor es in das Geröll an der Westwand der Aiguille de Goûter geht, gewähren wir noch einer siebenköpfigen russischen Seilschaft den Vortritt. Nach kurzer Zeit gelangen wir zur Steinschlag- und damit Schlüsselstelle des Aufstiegs, dem Grand Couloir de l’Aiguille du Goûter. Als Letzter nehme ich dabei die Querung der Rinne vor und habe riesiges Glück. Während ab und zu abgehendes Gestein akustisch zu vernehmen ist und die Vorderleute allesamt unbeschadet im schnelleren Schritt die andere Seite erreichen, schlägt ein Stein in meinen Rucksack ein und macht sich durch ein blechernes Geräusch bemerkbar. Meine (nagelneue) Thermoskanne ziert daraufhin ein etwas größerer Einschlag - aber immer noch besser, als ‘ne „Blessur“ am Arm oder den Rippen.
Der Aufstieg im Fels wird danach merklich steiler und ist im oberen Teil auch seilgesichert. Ein kleiner Verhauer im Dunkel der Nacht (bei Sternenhimmel und Vollmond!) verlängert die Tour nur geringfügig. Mittlerweile sind es so an die dreißig Stirnlampenlichter, die unserem Weg folgen - vor uns immerhin zwölf Leute. Es hat schon etwas von Massentourismus, das kann man nicht leugnen.
Kurz vor 3 Uhr erreichen wir die Ancien Refuge du Goûter (3.817 m), welche nur noch als Winterquartier dient. Dort binden wir uns die Steigeisen unter die Schuhe und essen schnell noch etwas, ehe die lange Schneehatsch zum Gipfel beginnt. Die Nouveau Refuge du Goûter (3.835 m) lassen wir gegen 3:25 Uhr unterhalb unserer Trampelspur liegen, denn von hier werden bis zum Mont Blanc noch vier bis fünf Stunden Fußmarsch angegeben und wir sind für ein anvisiertes „Berg Heil!“ um 8 Uhr schon ganz schön in Zeitnot. Denn hier an der Hütte geht es für gewöhnlich zwischen 2 und 3 Uhr zum Gipfel auf, so daß die Lichteranzahl vor uns nun um einiges angewachsen ist. Wobei man aufgrund des weißen Untergrundes und des Vollmondes auf die Zusatzbeleuchtung liebend gern verzichten kann.
Der Anstieg zum Dôme du Goûter (4.304 m) ist schon ganz schön mühsam, da sich doch die unzureichende Akklimatisation bemerkbar macht. Vorbei am Pointe Bayeux (4.258 m) geht es danach wieder zum Col du Dôme (4.237 m) hinab. Über einen Bergschrund führt die Spur nun zum Refuge Bivouac Vallot - Abri Vallot (4.362 m), welches als Schutzhütte und nicht als Schlafstätte dient. Diese sollte man für eine optimal austarierte Mont-Blanc-Besteigung gegen 5 Uhr passiert haben. Trotz unserer halbstündigen Verspätung zu diesem „Zeitlimit“, müssen wir uns eine Fuffzehn nehmen: etwas Trinken und Essen, sonst ist der Ofen ganz aus! Die uns vorauseilenden Bergsteiger markieren mit ihren Leuchten den weiteren Weg - und dieser erscheint endlos lang. Zum Glück sind die obersten, wahrnehmbaren Lichter keine Stirnlampen mehr, sondern die Sterne des „Großen Wagens“, welche über dem Mont-Blanc-Gipfel thronen.
Auf dem Bossesgrat werden nun die beiden Schneehügel Grande Bosse (4.513 m) und Petite Bosse (4.547 m) überschritten. Der Wind nimmt dabei extrem zu und bei so mancher Böe hat man auf dem schmalen Grat mit dem Ausbalancieren (des schweren Rucksacks) ganz schön zu tun. Zu allem Überfluß gehen mir im 30°-Anstieg zum zweiten „Bosse“ auch noch beide Steigeisen von den Schuhen. Das macht natürlich an so einer engen Stelle doppelten Spaß, die wieder an die Latschen zu montieren! Mit dem Pickel hacke ich mir deshalb einen Sitzplatz neben den Grat, um „ungestört“ von vorbeiziehenden Seilschaften agieren zu können. Ungefähr zehn Minuten Zeitverzug bringt diese Aktion, da selbst mit Utes Hilfe nicht jeder Griff im eiskalten Wind sitzt. Dilettantisch! Jetzt kann ich mich definitiv auch zum Touristenklientel zählen, welches schlecht vorbereitet in diesen Kampf zieht, denn mittlerweile wird auch die Luft für mich dünner und die Kraft läßt immer schneller, immer mehr nach. Dabei den Sonnenaufgang auf über 4.500 Metern erleben zu dürfen, klingt da schon wie ein wenig Hohn. Ich genieße es trotzdem!
Später ist dann der Gipfel (aufgrund der zunehmenden Bewölkung) nicht mehr ausmachbar und die Vermutung, hinter der nächsten „Wolke“ fertig zu sein, schwindet noch einige Male. Um 7:42 Uhr ist es dann aber soweit - Ute und ich stehen auf dem Mont Blanc (4.810 m)! Endlich! Es ist zwar Null Sicht, aber das ist uns egal! Eine Stunde lang frieren wir uns auf dem Dach der Alpen noch den Arsch ab, in der Hoffnung auf Fernsicht - es bleibt beim Wunsch, denn nichts passiert. Und genau für heute war einer dieser wolkenfreien Tage für den Mont Blanc angekündigt gewesen - doch dies erweist sich nun als Fehlinformation, genau so wie die nur 40 km/h Windgeschwindigkeit, welche auf dem Grat auch wesentlich höher gelegen haben dürfte. Sei’s drum! Wir stehen oben und sollten dies auch so annehmen. Ich möchte nicht wissen, wie viele der aufgebrochenen Seilschaften (mit Führer) den Gipfel heute nicht erreichen werden. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, daß mich ein Bergführer in meinem sichtbar schlechten physischen Zustand noch weiter mit hoch geschlurrt hätte - und da war ich bei weitem noch nicht mal der angeschlagenste Gipfelanwärter am heutigen Tag.
Die Zeit auf dem Gipfel verbringen wir mit dem „richtigen“ Befestigen der Steigeisen, mit ein paar wenigen Snacks (bei Tee mit Eis!) und jeder Menge Fotos - für uns und für andere, denn während unserer Gipfelrast befinden sich abwechselnd ca. zwanzig weitere Bergbezwinger auf dem Plateau des „weißen Berges“.
Gut eingepackt treten wir gegen 8:40 Uhr den Rückweg an. Der Wind hat nun noch etwas an Schärfe zugelegt und die Kälte zeigt sich überall in Form von Eiskristallen am Körper und am Rucksack. Der Abstieg ist aufgrund des ständigen Gegenverkehrs auf dem Grat auch nicht zu unterschätzen. Wir haben eine französische Viererseilschaft vor uns und treten stets mit ihnen an den Rand des Grates, wenn von unten neue Seilschaften entgegenkommen. Dabei fällt auf, daß hier wirklich jeder eingebunden geht - egal, ob zu zweit, zu dritt oder zu fünft. Außer uns habe ich nur noch vier Franzosen ohne den obligatorischen Verbindungsstrick am heutigen Tag gesehen. Zwei Spalten und ein schon bedenklich großer Riß an einer zu querenden Wechte am Bossesgrat waren für mich die wahrgenommenen Gefahren der Grat- und Gletschertour. Ob da ein Seil hilfreich ist oder nur noch mehr „Schaden“ anrichtet, muß jeder für sich selbst entscheiden.
Das Vallot-Biwak erreichen wir um 9:50 Uhr und bleiben bis 10:30 Uhr zum (kleinen) zweiten Frühstück. Mittlerweile reißt die Wolkendecke auch immer mehr für immer längere Zeit auf und es eröffnet sich uns ein herrlicher Talblick. Am Dôme du Goûter hüllt ein (durch die Sonnenbrille) dämonisch wirkendes Wolkenspiel den Mont Blanc noch einmal kunstvoll ein und die Blicke auf die bizarren Formen der Gletscherwelt von Bionnassay, sowie Grand und Petit Plateau sind einmalig. So entschädigt uns der Abstieg für die entgangene Gipfelsicht mehr als reichlich!
Der weitere Weg wird nun, aufgrund der einsetzenden Wärme, etwas schwieriger. Obwohl es fast nur noch bergab geht, kommen wir immer häufiger ins Stocken. Der Schnee ist nun so weich, daß er sich unter den Steigeisen nach wenigen Schritten zu Plateausohlen auftürmt und man immer mal wieder unverhofft umknickt. Also muß nun ständig mit dem Pickel gegen die Schuhsohlen geschlagen werden, damit die Schneeschollen aus den Absätzen fallen. Es ist fast Mittag und noch immer kommen uns Einzelgänger oder Seilschaften entgegen, gezeichnet von einem noch schwereren Schritt, so wie ich ihn vor Stunden in Gipfelnähe zelebrierte. In dieser Geschwindigkeit würden sie den Mont Blanc erst gegen 16 oder 17 Uhr erreichen - oder, was wahrscheinlicher erscheint: sie werden irgendwo auf halben Weg umdrehen müssen, da der weiche Schnee zusätzlich den Saft aus den Beinen zieht.
An der Nouveau Refuge du Goûter machen wir von 12 bis 12:50 Uhr Pause und verpacken schon mal die Steigeisen, da für die paar hundert Meter bis zum Abstieg in den Fels der Schneeweg mit Seilen gesichert ist. Kurz nach eins reihen wir uns in das Getümmel im Fels ein. Da der obere Teil seilversichert ist und einige Leute ihre Klettersteigsets an den übermäßig angebrachten Stahlseilen inflationär einsetzen, ist das Absteigen ein recht zäher Vorgang. Zumal sich auch noch etliche Seilschaften zum Aufstieg zur Goûter-Hütte befinden - und auch hier ist der Begriff „Seilschaft“ Tagesordnung. Die Wartezeiten an heiklen Punkten erhöhen sich dadurch enorm, da vier in ein Seil eingebundene Leute eben eine wesentlich längere Zeit diese Stellen blockieren, als wenn sie einzeln gehen würden. Es ist stellenweise recht eng und manch einer wird auch ungeduldig - was sich in riskanten Überholvorgängen widerspiegelt.
Eine weitere Gefahr ist jedoch der Steinschlag, welcher in beiden Rinnen neben dem Felsvorsprung abgeht. Es ist Nachmittag und die Sonne hat die Wand ordentlich erwärmt, so daß im Minutentakt gelockertes Gestein gen Tal marschiert. Besonders gefährlich sind dabei die Querschläger, welche im unteren Teil der Wand ordentlich an Fahrt aufgenommen haben und wie Geschosse planlos durch die Rinne und deren Flanken jagen. Uns steht aber noch die gefährliche Passage des Grand Couloir bevor. An deren Einstieg beobachten wir mit zwölf Engländern, Russen und Franzosen das gefährliche Schauspiel der Natur. Einzeln oder maximal zu zweit wird im schnellen Schritt diese Stelle genommen, während die anderen das Geschehen beobachten und gegebenenfalls die in der Rinne befindlichen Personen warnen. Eine Minute Angst, eine Minute Russisches Roulette - dann ist man wieder in (vermeintlicher) Sicherheit! Ich habe mein Glück vor rund 14 Stunden an dieser Stelle schon maximal herausgefordert - nun ist es bei unserer Querung ruhig und erst wesentlich später sind die dumpfen Geräusche der Steine und die Warnrufe der Kletterer wieder zu vernehmen.
Kurz nach 15 Uhr treffen wir an der Tête Rousse ein. Wir unterhalten uns (wie am Vortag) bei einem Bier mit den beiden Österreichern auf dem „Sonnendeck“ vor der Hütte. Diesmal lassen wir unsere Bergerlebnisse revuepassieren und diskutieren auch über den Sinn oder Unsinn des Anseilens bei Zweiertrupps. Einhelliges Ergebnis: nur wirklich erfahrene und gut aufeinander abgestimmte Personen sollten diese Version der Sicherung nutzen. Physikalische Gesetze gelten eben auch hier und rund 40 Kilogramm Gewichtsunterschied kann man nicht so ohne weiteres in einer Gefahrensituation ausgleichen. Ebenso wird ein Bergführer keine drei eingebundenen „Berggäste“ vor einem Absturz bewahren können. Selbst nach ein paar gemeinsamen Eingehtouren ist dieses notwendige Zusammenspiel noch nicht so weit ausgereift, daß es zur Verbesserung der Sicherheit beitragen würde. Eine Seilschaft muß nun eben mal technisch und physisch/psychisch harmonieren!
Kurz vor halb fünf brechen wir dann zu unserer letzten Etappe auf. Die Rucksäcke haben nun noch einmal an Gewicht zugenommen, da wir die schweren Bergschuhe gegen die leichten Laufschuhe sowie unsere Bergsteigerkostüme gegen die kurze Sportbekleidung getauscht haben. Wir gehen denselben Weg, wie wir ihn hoch zu genommen haben. Die Anzahl der Steinböcke und Gemsen, welche ohne Furcht den Wegrand säumen, dürfte ungefähr bei dreißig liegen. Es sind nur noch wenige Leute im Aufstieg unterwegs - darunter ein paar Engländer, welche sich auf der Hütte noch Schlafplätze erhoffen. Doch ohne Reservierung läuft dort nichts! Die Alternative des „Zeltplatzes“ fällt für sie jedoch auch flach, da sie kein Zelt dabeihaben. Vielleicht ist aber auch die kommende Nacht wieder so mild, daß sie im Freien in ihre Schlafsäcke kriechen können?
Die letzte Bahn vom Bergbahnhof Nid d’Aigle fährt ohne uns ab. Schmerzt die Schulter vom Tragen des Rucksacks auch noch so sehr, wir laufen bis ins Tal zu unserem Ausgangspunkt. Eine längere Trinkpause am Bergbach gönnen wir uns im ausklingenden Sonnenschein. Kurz vor 20 Uhr passieren wir die Bergstation der Bellevue-Seilbahn und wackeln nun dem Tal entgegen. Der Zug ist von der Kette und wir wanken nur noch apathisch den Hang in den anschließenden Wald hinab. Wir biegen später Richtung Les Houches Chef-lieu ab, was sich allerdings noch als Umweg entpuppt - ein weiterer Stimmungstöter auf unserem Abstieg. Gegen 21:10 Uhr sind wir dann doch in Les Houches und im Bushäuschen von Mairie sitzt sogar eine Frau. Also fährt auch noch ein Bus Richtung Chamonix! Ein Busfahrplan hängt leider nicht aus, weil nur noch die für den UTMB-Zuschauertransport gültigen Linien angeschlagen sind. Halb zehn kommt er dann - der Chamonix-Bus, welcher um diese Zeit schon als Nachtbus unterwegs ist und somit einen Zuschlag von 2 Euro pro Fahrt dem Portemonnaie entlockt.
Kurz vor 22 Uhr sind wir gerädert aber glücklich in unserer Ferienwohnung in Chamonix und haben keinen Bock mehr auf unseren geplanten Besuch in der Kult-Pizzeria nebenan. Ein Büchsenbier aus dem Kühlschrank und ein Glas Vin rouge reichen vollkommen aus und knipsen kurz darauf das Licht endgültig aus. Auch unsere Rucksäcke dürfen jetzt bis zum nächsten Morgen auf ihre Leerung warten …
Alles in allem ist auch der Normalweg auf den Mont Blanc kein Spaziergang. Er verlangt trotz allem Massentourismus eine gewisse Trittsicherheit, sowie eine ordentliche Höhenanpassung und eine gute Kondition für einen Gipfelerfolg. Ob man einen Bergführer für diese Bergfahrt benötigt, sollte jeder für sich selbst entscheiden., denn die vorgenannten Komponenten kann er einem nicht abnehmen. Die Compagnie des Guides de Chamonix bietet den Service eines Bergführers (inkl. Eingehtouren) für 1.650 oder 2.270 Euro pro Nase an - ohne Kost und Logie für ihn, versteht sich.
Apropos Bergführer: Uns ist während der gesamten Tour nicht ein Guide pampisch gekommen, weil wir ohne Seil und einen seiner Kollegen unterwegs waren. Im Gegenteil: es wurden sogar noch freundlich das Gespräch gesucht. Dies wertet natürlich den persönlichen Standpunkt zu dieser Berufsgruppe wieder ungemein auf, da man doch die abenteuerlichsten Geschichten um deren Arroganz im Hinterkopf hat.
Unsere mitgeschleppte Ausrüstung umfaßte: Helm mit Stirnlampe, Eispickel (Stöcke wären für den Großteil des Gletschers sinnvoller gewesen), Mütze, zwei Paar Handschuhe (dicke und leichte), Sonnenbrille (wurde erst auf dem Rückweg ab dem Vallot-Biwak benötigt), lange Unterhosen, lange Berghosen, Merino-Wollsocken, langes Unterhemd, gefütterte Weste, Daunenjacke, straffe Windjacke, 4 Liter Flüssigkeit (2 Liter kochendes Wasser, 1 Liter Mineralwasser, 1 Liter Tee), ein Baguette, Wurst, Trockenfrüchte, 5 Tuben süße Milch, Stempelbuch, Fotoapparat, ein gut gefülltes Portemonnaie, Hüttenschlafsack … nicht benötigt wurden: Seil, Gurt, Karabiner, Reepschnüre und Schlaufen, Biwakschlafsack, Regenhose und Regenjacke (eher als zusätzlicher Schutz gegen den Wind gedacht), windundurchlässige Wärmehose, zwei zusätzliche Baumwollhemden, Baumwoll-Kapuzenjacke, Messer, Verbandszeug, Fernglas, Mobiltelefon (mit detaillierter Karte als GPS-Gerät gedacht) und Ladegerät, Ersatzbatterien (für die Stirnlampe).
BILDER: siehe Zusammenschnitt in der Randleiste