27.06.2021 | 7:45 Uhr | 136 km | 1.820 Hm+ | 1.820 Hm- | Trainingsfahrt |
Als Tilo vor zwei Wochen schon einmal zu einer Entdeckungsfahrt ins Böhmische einlud, war die Resonanz im Kreise seiner Radsportfreunde recht überschaubar. Nach dem üblichen Rumgeeiere zu diesem Thema, fand sich Tilo dann sogar allein im Radsattel Richtung Süden wieder. Seine Eindrücke von dieser Ausfahrt haben ihn jedoch so überwältigt, daß er diese unbedingt noch einmal mit Gleichgesinnten teilen möchte. Bei seinem neuerlichen, sportlich-kulturell geprägten Wochenend-Angebot findet er auf Anhieb drei Mitstreiter.
Gleich hinter der Grenze und doch weit ab vom Grenzgänger-Rummel hatte er einen Biertempel entdeckt, der durch süffiges Bräu für den ausgelaugten Körper, den berühmt-berüchtigten "schmalen Taler" beim Bezahlen und faszinierende Kuppelmalereien an den Gewölbedecken über den Biertischgarnituren von sich reden machte. Die genauen Koordinaten verriet er dabei nicht, schließlich handelt es sich um einen Geheimtip. Mit einem Umfang von 136 Kilometern und nicht ganz 2.000 Höhenmetern sind die An- und Abfahrt recht kurz gehalten und das Schmerzmoment im Gebein verhältnismäßig gering - sozusagen analog dem Besuch in der Kneipe um die Ecke zum sonntäglichen Frühschoppen. Neben Ute und mir vervollständigt Siggi nun Tilos Kneipengang per Fahrrad.
Sonntagmorgen in Böhmen
Von Chemnitz geht es auf schnellstem Weg Richtung Olbernhau. Über Euba und die Struth gelangen wir nach Flöha, von dort über Falkenau und Hetzdorf ins Lößnitztal. Der Großen Lößnitz folgen wir flußaufwärts nach Eppendorf, genießen wenig später den Blick auf die Talsperre Saidenbach und landen schließlich an einer Minol-Tankstelle in Forchheim. Dabei handelt es sich um einen detailierten Nachbau dieses Relikts auf Privatgrund. Mit deren Erbauer finden wir recht schnell ins Gespräch und wärmen (fast) vergessenes DDR-Kulturgut wieder auf - beginnend bei den Währungseinheiten (MDN, DM und Mark) und deren Münzgestaltung, weiter über die Inhalte der Bockwurst-Automaten, die Pkw-Dachzelte der Fa. Müller aus Limbach-Oberfrohna bis hin zu serienmäßigen Aschenbechern in Linienbussen. Dies wären allesamt Themen für einen zünftigen Stammtischplausch, doch noch sitzen wir nicht "an der Quelle", die diesen Gedankenaustausch am Sonntagmorgen standesgemäß fördert.
Doch weit ist es nicht mehr! Es gibt noch eine Abfahrt über Hallbach bis Olbernhau und eine Stadtrundfahrt entlang der Flöha bis Grünthal. Dort überqueren wir die Natzschung (Načetinsky potok) ins Tschechische, lassen aber die ersten Billigangebote in Böhmisch Grünthal (Zeleny Dul) ungenutzt und radeln weiter bis Brandau (Brandov). Auch hier kehren wir nicht im erstbesten Lokal ein, da der fußlahme Grenzverkehr auch hier noch zu viel Rummel veranstaltet. Es geht die Dorfstraße weiter leicht steigend dem Ziel entgegen. Als Tilo dann abrupt die Schlagzahl verringert und ausrollen läßt, ein sich (von vielen angelehnten schweren Elektrofahrrädern) nach innen gewölbter Gartenzaun präsentiert und sich eine grün-weiß-rot-gelbe Kuppel im Vorgarten eines Einfamilienhauses auftut, ist es gewiß: wir sind am Ziel! Ob unser Domizil einen Namen hat, weiß niemand im Tross. Im Schatten der symetrisch angebrachten Decken-Fresken und neben, vor neugierigen Blicken schützenden Holzvertäfelungen genießen wir nun das angebotene Rohozec Podskalák Svetlé Vyčepní, ein aus der Brauerei von Klein Rohosetz (Maly Rohozec) gebrautes böhmisches Pilsener mit nur 4,2% "Geschmacksverstärker". Dazu gibt es später noch eine sehr fettige Wurst, damit es dem Magen nicht zu gut geht - sozusagen das Pendant vom erzgebirgstypischen Verdauungsschnaps nach fettigem Essen.
Minol-Tankstelle Forchheim / typisch böhmische Deckenmalerei
Nach einer extrem langen Schaffenspause (auf dem Fahrrad) steht uns nun ein etwas längerer Bergan-Abschnitt bevor. So um die 300 Höhenmeter gilt es dabei zu bezwingen - fast alles im Wald auf kaum frequentierter Forststraße und daher nicht so schlimm, wenn man dabei gepflegt "für sich" sterben kann. Danach sorgt eine leicht wellige Piste, mit Altem Teich (Rudolícky rybnik) und Ochsenstaller oder Heidenteich (Volarensky rybnik) sowie der Kirche des Heiligen Wenzel (Kostel sv Václava) für etwas Abwechslung. Von der 1702 geweihten Steinkirche sind es nur noch ein paar hundert Meter bis zum (leicht verspäteten) Mittagstisch in Kallich (Kalek). In der vermutlich einzigen Kneipe des Dorfes - wir haben da jetzt aus Zeitgründen vor Ort nicht weiter recherchiert - lassen wir uns unter einem Holzdach nieder. Ganz spartanisch, ohne die eben noch bestaunte Deckenkunst geht es auch! Schließlich zählen die inneren Werte - die in den Halblitergläsern! Diese Inhaltsstoffe unserer Gläser wurden dafür extra aus Swijan (Svijany) und Münchengrätz (Mnichovo Hradište) herangeschafft - einmal als Svijansky rytír, einem 5,0%-igen Pilsner und außerdem in Form des tschechischen Koffeingetränks namens Kofola Original. Letzteres besticht durch seinen etwas "natürlicheren" Geschmack im Gegensatz zu den amerikanischen Konkurrenten und Weltmarktführern dieser Branche. Durch den um ein Fünftel geringeren Zuckergehalt gegenüber Coca-Cola oder Pepsi kann man dieses Getränk auch eher der Sparte Durstlöscher zuordnen. Auch hier gibt es eine Wurst, welche jedoch sauer eingelegt, mit Schwarzbrot serviert wird. Dies ist nun mal nicht jedermanns Sache und daher werden auch noch selbstgemachte Kartoffelchips gereicht.
Wegweiser in Pobershau / Erfrischung auf böhmisch
Doch irgendwann müssen wir auch diesen Ort der Glückseligkeit verlassen und uns Richtung Heimat bewegen. Der Grenzübergang liegt gleich um die Ecke, wir überqueren wieder die Natzschung und befinden uns nun im Rübenauer Ortsteil Einsiedel-Sensenhammer. Dort gelingt mir bei einem Fotostop von Siggi seit langem wieder einer dieser Klickpedalenklemmer, bei dem man nur noch auf die B-Note beim Eintauchen im Gelände achten kann. Damit die Benotung auch ordentlich nach oben ausschlägt, wähle ich eine Rolle über den Lenker mit einer Art Findling als Unterlage aus und sorge somit für spektakuläre Momentaufnahmen. Nach diesem Mißgeschick sind beide Füße zwar aus den Pedalen, stecken aber irgendwie zwischen den Speichen. Jetzt ist beim Entwirren die Geschicklichkeit vom Mikadospiel gefragt, denn eine verbogene/gebrochene Speiche wäre das Ende der Ausfahrt! Die gesamte Zeit achtete ich bei mir auf einen reifenschonenden Fahrstil, denn da guckt schon seit Fahrtantritt (und noch länger zurück) die Karkasse durch den Mantel und ein Mit-Sie-Ansprechen des Rades ist regelrecht verpflichtend. Doch glücklicherweise ist nur die Kette wieder einzufädeln und im Fahrwerk läuft alles rund, als Siggi und ich nach kurzer Zwangspause die Verfolgung zu Ute und Tilo Richtung Kühnhaide wieder aufnehmen.
Zwischen Goldkrone und Wildsberg gelangen wir nach Pobershau und nehmen den weiteren Weg Richtung Gelobtland. Dabei passieren wir zwei ehemalige Skisprungschanzen, auf deren Existenz jedoch nur noch Schilder hinweisen. Siggi bekommt von all dem mal wieder nichts mit. Zu sehr ist er auf seine möglichst hohe Trittfrequenz fokussiert, wundert sich aber jedes mal über sein fehlendes Mitspracherecht, wenn es um längst vergessene Sportstätten dieser Art geht (verwundertes Zitat Siggis nach einer Wanderung zur Hellmannsgrundschnanze bei Langenchursdorf: "Ihr beiden spürt jede Schanze in Sachsen auf.") Daher: Augen auf, nicht nur im Straßenverkehr, Siggi! Bei der Friedrich-Ludwig-Jahn-Schanze (Nutzung von 1955 bis 1972, Schanzenrekord bei 54 Metern) ist sogar noch eine Schneise im Wald (von der Straße aus) gut sichtbar. Von der 1932 geweihten Johannes-Böttcher-Schanze fehlen jedoch solche prägenden Hinweise im Gelände, denn seit rund 60 Jahren ruht dort der Wettkampfsport - 1988 fand die letzte Nutzung der Anlage durch ein Veteranenspringen statt.
Bremsplatten vor Antritt der Fahrt
Nach der Querung der B174 verlieren wir in Großrückerswalde rund 270 Höhenmeter bei der Fahrt hinab ins Preßnitztal. Über Streckenwalde gelangen wir danach ins Zschopautal und am Abzweig Wilischthal folgt der letzte Anstieg durch Weißbach. Dieser wird noch einmal kurz durch eine Rast in der Heimatanlage Mini-Weißbach unterbrochen. Dort kann man ehemalige und das derzeitige Ortsbild von Weißbach prägende Gebäude im Maßstab 1:10 bewundern. Siggi sucht hier allerdings vergebens nach Skisprungschanzen-Miniaturen, um sich ihm fehlenden Gesprächsstoff anzueignen.
Seinen Orbit diesbezüglich könnte er auf unserem weiteren Weg durchs Zwönitztal nach Chemnitz erweitern, denn auch wenn es jetzt in eher sanfteres Gelände geht, boten einst die Talhänge des Flußes genügend Argumente für solche Bauwerke. In Einsiedel entstanden so die 45-m-Mühlbergschanze (1961 bis 1975) und die unterhalb errichtete Pionierschanze (seit 1971 in Betrieb, allerdings seit 1990 keine Wettkampf-Springen). Etwas abseits unserer Route erkennt man an der Eibenberger Straße, unweit der Körner-Höhe noch die Aufschüttung des Absprungs der 1933 eingeweihten Einsiedler Schanze, auf deren Überresten ich als Kind meine ersten Sprungversuche unternahm. In Erfenschlag fahren wir dann vis a vis der längst eingewachsenen Walter-Güldner-Schanze (1925 bis 1962) und der Georg-Bienert-Schanze (1928 bis 1933), die später als Pionierschanze wiederbelebt wurde (1950 bis 1960), am Hang des Gutsberges vorbei. Kurz darauf endet unsere Exkursion in die böhmische Braukunst und die virtuelle Reise zu stillgelegten Orten des erzgebirgischen Skispringens.
Friedrich-Ludwig-Jahn-Schanze / Miniatur-Anlage Weißbach
Vielleicht entwirft Tilo mal eine Art Vier-Schanzen-Tournee, nur für Siggi. Schließlich werden gute Wintersportler im Sommer gemacht. Ob dies dann auf gute Weitenjagd vom verschneiten Anlaufturm durch Radfahren in sommerlicher Temperatur umzumünzen geht, wird der Winter zeigen. Radtourenziele mit Schanzenhintergrund gibt es genug. Selbst in Flachlandstädten wie Altenburg oder Schmölln schnallte man sich dafür früher die Bretter an die Füße und in Eilenburg tut man dies sogar noch heute.
... und für den Frühschoppen mit böhmischen Bier benötigt man ja demnächst sowieso wieder einen Passierschein (in welcher Form auch immer), der einem die Lust darauf vergehen läßt!